Das wilde Kind
er sprach mit ihm in weichem, lockendem Tonfall, aber der Junge schien ihn nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu hören. Als Kind hatte Vidal eine taubstumme Halbschwester gehabt, und in der Familie hatten sich Gebärden herausgebildet, mittels deren man mit ihr kommuniziert hatte, auch wenn sie vom ganzen Rest des Dorfes als Missgeburt abgelehnt worden war. Diese Gebärden fielen ihm jetzt wieder ein, als er in der Kälte stand und den nackten Jungen betrachtete. Wenn er tatsächlich taubstumm war, wie es den Anschein hatte, würde er vielleicht auf diese Gebärden reagieren. Die Hände des Färbers trugen die Spuren seines Gewerbes, und sie sprachen in raschen, eleganten Mustern, doch ohne Erfolg. Der Junge stand wie angewurzelt da, sein Blick glitt von Vidals Gesicht zu der Hütte, dem Stall, den Rauchwolken, die flach über den Himmel zogen. Schließlich wich Vidal, der fürchtete, er könnte den Jungen verscheuchen, langsam zu seiner Hütte zurück, machte an der Tür eine Geste des Willkommens, trat ein und ließ die Tür einladend offenstehen.
Nach einiger Zeit, als Vidal sich über das Feuer beugte und die noch immer ungemolkene Kuh – Rousa – ein Muhenausstieß, das an unregelmäßiges Donnergrollen hinter den Hügeln gemahnte, kam der Junge an die offene Tür, so dass Vidal ihn eingehend betrachten konnte. Wessen Kind war das, fragte er sich, dass man es derart hatte verwildern lassen? In allen Poren der Haut steckte der Schmutz des Waldes, das Haar war verfilzt und voller Zweige, Kletten und modriger Blätter, und an den Knien hatte er eine Hornhaut sowie an den Füßen. Wer war er? Hatte man ihn ausgesetzt? Und dann sah er die Narbe an der Kehle des Jungen und wusste die Antwort. Als er eine Gebärde zum Feuer, zu dem rußgeschwärzten Topf und dem Haferbrei darin machte, dachte er an seine tote Schwester.
Vorsichtig, einen zögernden Schritt nach dem anderen, näherte sich der Junge dem Feuer. Und ebenso vorsichtig – er fürchtete, jede unvermittelte Bewegung könnte den Jungen wieder zur Tür und hinaus auf die Felder treiben – legte Vidal Kleinholz nach, bis die Flammen emporzüngelten und er den Topf auf das Gitter stellen musste. Die Tür stand offen. Die Kuh muhte. Der Färber bot dem Jungen eine Schüssel Haferbrei an, von der angenehm duftender Dampf aufstieg, und wollte, sobald er sein Vertrauen gewonnen hatte, Milch holen und die Tür schließen. Doch der Junge zeigte keinerlei Interesse. Er war ständig in Bewegung, wiegte sich hockend vor und zurück und starrte auf das Feuer. Vidal erkannte, dass er nicht wusste, was Haferbrei war, dass er nicht wusste, was eine Schüssel oder ein Löffel waren und wozu sie dienten, und so machte er Gebärden, stellte den Vorgang des Essens pantomimisch dar, wie es ein Vater mit einem kleinen Kind tut: Er führte den Löffel zum Mund und kostete den Haferbrei, er kaute und schmatzte, ja er rieb sich sogar den Bauch und lächelte zufrieden.
Der Junge war ungerührt. Er hockte da und wiegte sich, fasziniert vom Feuer, vor und zurück, und so hätten die beiden vielleicht den ganzen Tag verbracht, wenn dem alten Mann nicht plötzlich ein Gedanke gekommen wäre. Vielleicht würde das Kind einfachere, grobere Nahrung annehmen, dachte er, etwas aus Feld und Wald, Nüsse zum Beispiel. Er sah sich um – er hatte keine Nüsse. Die Zeit für Nüsse war vorbei. Doch in einem Korb an der Wand waren ein paar Kartoffeln, die er aus dem Rübenkeller geholt hatte, um sie, in Schmalz gebraten, zu Abend zu essen. Behutsam und mit deutlichen Gebärden, um das Kind nicht zu erschrecken, stand er auf und ging langsam – so langsam, als wäre er selbst ein Kind und spielte Wolkenfangen – durch den Raum zu dem Korb. Er hob den geflochtenen Deckel ab und hielt den Korb schräg, so dass man den Inhalt gut erkennen konnte.
Und mehr brauchte es nicht. Im selben Augenblick war der Junge da, nur Zentimeter entfernt, der Geruch der Wildnis stieg wie Moschus von ihm auf, seine Hände wühlten in dem Korb, bis er alle Kartoffeln – ein Dutzend oder mehr – in den Armen hielt, und dann war er wieder beim Feuer und warf sie mit einer einzigen Bewegung in die Flammen. Sein Gesicht zuckte, sein Blick sprang hin und her. Aus seinem Mund kamen kurze, stumpfe, unartikulierte Schreie. Schon nach wenigen Sekunden – dem Zeitraum, den Vidal brauchte, um zur Tür zu gehen und sie zu schließen – griff der Junge in die Glut, um eine der rohen Kartoffeln herauszuholen, und
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