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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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der Bürgermeister habe einen Feiertag ausgerufen und das ganze Dorf zu einem Umtrunk eingeladen. Die Zeit blieb für einen Augenblick stehen. Die Menge schob, das Kind hing zwischen dem Draußen und dem Inneren dieser von Menschenhand erbauten Behausung, und für einen Moment waren das Wilde und das Zivilisierte im Gleichgewicht. Da öffnete das Kind seine schwarzen Augen, bäumte sich mit einer heftigen Bewegung auf und schlug die Zähne in das schlabbrige Fleisch unter DeFarges Kinn.
    Plötzliche Panik. DeFarge schrie auf, Messier packte noch fester zu, während der Wirt vor Schmerz und Angst losließ und der Junge, einen Hautfetzen zwischen den Zähnen, auf den Boden krachte, und wer es gesehen hatte, sagte später, es sei so gewesen, als habe eine aus dem Schlamm gezerrte Sumpfschildkröte ihren grünschillerndenKopf ausgefahren und blindlings zugeschnappt. Beim Anblick des Bluts waren alle entsetzt, es erblühte innerhalb von Sekunden im Bart des Wirts. Diejenigen, die bereits in der Taverne waren, fuhren zurück, ebenso wie die vor der Tür, während das Kind, das Messier zu Boden gerissen hatte, strampelnd und zuckend auf der Schwelle lag. Rufe und Schreie ertönten, und zwei oder drei Frauen stießen tiefe, laute Schluchzer aus, die den anderen das Herz aus dem Leib zu reißen schienen: Etwas Wildes war mitten unter ihnen, eine Bestie, ein Dämon, es lag zu ihren Füßen, eine sich im Schatten der Tür windende Gestalt mit blutverschmierter Schnauze. Erschrocken ließ auch Messier los und sprang auf. Er starrte das Wesen an, als wäre er es, der gebissen worden war.
    »Stech es ab«, zischte jemand. »Bring es um!«
    Aber dann sahen sie, dass es nur ein Kind war, knapp eins vierzig groß und kaum mehr als dreißig Kilo schwer. Zwei der Männer bedeckten sein Gesicht mit einem Lumpen, so dass es nicht mehr beißen konnte, und drückten es zu Boden, bis es aufhörte, sich zu winden, und schließlich wurden seine klauenartigen Hände, die sich schon halb befreit hatten, wieder gefesselt. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, erklärte Messier. »Es ist bloß ein Menschenkind.« Man führte den fluchenden DeFarge fort, um seine Wunde zu verbinden, und niemand verschwendete einen Gedanken an Tollwut, noch nicht. Dann drängten sie sich um das gefesselte Kind und stupsten es an, das aus der Festung des Waldes geraubte enfant sauvage . Sie sahen, dass seine Haut rauh war und dunkel wie die eines Arabers, dass die Hornhaut an seinen Füßen dick und schwielig war und seine Zähne so gelb wie die einer Ziege. Das Haar war verfilzt und fettig, und weil es über sein Gesicht und denrauhen Stoff des tief in den Mund gesteckten Knebels fiel, bewahrte es sie vor seinem starren, unverwandten Blick. Niemand kam auf den Gedanken, seine Genitalien zu bedecken. Es waren die eines Kindes: zwei Eicheln und ein Stöckchen.
    Die Nacht schritt voran, doch niemand wollte gehen. Wer keinen Platz im Raum gefunden hatte, stand vor der offenen Tür an, um einen zweiten oder dritten Blick zu erhaschen, es wurde getrunken, die Dunkelheit war durchdrungen von nachwinterlicher Kühle, DeFarges Frau legte weitere Scheite aufs Feuer, und jeder Mann, jede Frau, jedes Kind dachte, nun habe man ein Wunder gesehen, etwas, das schrecklicher und befremdlicher war als das Kalb mit den zwei Köpfen, das im vergangenen Jahr auf Mansards Hof geboren worden war, oder die Otter, die in sich hundert kleine Ottern getragen hatte. Sie stießen das Kind mit den Spitzen ihrer Stiefel und Holzschuhe an, und einige, die neugierig oder mutig genug waren, beugten sich zu ihm, um seinen Geruch aufzunehmen. Man war sich einig, dass es der Geruch der Wildnis war, der Geruch eines wilden Tiers in seiner Höhle. Irgendwann erschien der Priester, um den Jungen zu segnen, doch obwohl die wilden Indianer in Amerika ebenso in die Schar der Christenheit aufgenommen worden waren wie die Eingeborenen von Afrika und Asien, besann er sich eines Besseren. »Was ist los, Vater?« fragte jemand. »Ist er kein Mensch?«
    Aber der Priester – ein sehr junger Mann mit engelsgleichem Gesicht und Flaumbart – schüttelte nur den Kopf und ging hinaus.
    Später, als man des Spektakels müde war, als Augenlider und Kinne schwer wurden, bestand Messier, der lautesteund bestimmendste der Gruppe, darauf, diese Monstrosität müsse über Nacht im Hinterzimmer der Taverne eingeschlossen werden, damit man am nächsten Morgen die Nachricht von seiner Ergreifung in der ganzen Gegend verbreiten

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