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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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verbrannte sich dabei die Finger. Er biss sogleich hinein, als hätte er keine Vorstellung davon, wozu das Kochen eigentlich diente. Als die erste Kartoffel verschlungen war, griff er nach der nächsten, und alles wiederholte sich, nur dass die Kartoffelnjetzt außen schwarz und innen noch immer hart und die Finger des Jungen sichtlich versengt waren.
    Entsetzt wollte Vidal ihm den Gebrauch von Schürhaken und Feuerzange zeigen, aber der Junge ignorierte ihn – oder schlimmer noch: Er starrte durch ihn hindurch, als existierte er gar nicht. Der Färber bot ihm Käse, Brot, Wein an, doch all das interessierte den Jungen nicht, und er reagierte erst, als Vidal ihm aus der Kanne auf dem Tisch einen Becher Wasser einschenkte. Zunächst wollte er das Wasser mit der Zunge auflecken, aber dann begriff er, hielt den Becher an die Lippen und trank ihn aus. Danach wollte er mehr, und Vidal, der so fasziniert war, als hätte sich ein Fuchs auf die Hinterbeine erhoben und beschlossen, ihm am Tisch Gesellschaft zu leisten, schenkte ihm nach, bis er genug getrunken hatte. Und dann legte sich das nackte, schmutzige Kind auf die Steine vor dem Feuer, zog die Beine an die Brust und fiel in einen tiefen Schlaf.
    Lange Zeit saß der Färber nur da und betrachtete diese Erscheinung, die in sein Leben geplatzt war. Von Zeit zu Zeit stand er auf, um Feuerholz nachzulegen oder seine Pfeife anzuzünden, doch er hatte nicht vor zu arbeiten. Heute nicht. Er dachte immer nur an seine Halbschwester Marie-Thérèse, ein schmächtiges Mädchen mit einem ungeheuer lebhaften Gesicht – sie konnte damit mehr ausdrücken als die meisten Menschen mit ihrer Zunge. Sie stammte aus der ersten Ehe seines Vaters mit einer Frau, die nach der Geburt dieses einen behinderten Kindes am Wochenbettfieber gestorben war, und seine Mutter hatte sie nie wirklich angenommen. Stets war sie die letzte, die etwas zu essen bekam, und die erste, die eine Ohrfeige erhielt, wenn irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte, und darum hielt sie sich abseits von den anderen Geschwisternund ging allein umher, bis sie eines Abends nicht zurückkehrte. Er war damals acht oder neun, also musste sie ungefähr zwölf gewesen sein. Man fand sie tot auf dem Grund einer Schlucht. Es hieß, sie habe im Dunkeln den Weg verloren und sei abgestürzt, aber selbst damals, als Kind, wusste er es besser.
    Wieder muhte Rousa, und er fuhr auf. Was dachte er sich nur dabei, sie mit prallem Euter stehenzulassen? Er erhob sich, zog die Jacke an und ging hinaus. Als er zurückkam, hockte der Junge an der gegenüberliegenden Wand, zitternd und verängstigt, und starrte ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Alles war durcheinander, der Tisch umgestürzt, Kerzenhalter lagen auf dem Boden, all seine mühsam gesammelten und getrockneten Pflanzen waren heruntergerissen und verstreut wie dürres Laub. Er versuchte, den Jungen zu beruhigen, er sprach mit seinen Händen, aber es hatte keinen Zweck: Jede Bewegung, die er machte, rief nur eine entsprechende Gegenbewegung hervor, der Junge presste sich an die Wand und blieb auf Abstand, er wiegte sich hin und her, bereit, zur Tür zu springen – wenn er nur gewusst hätte, was eine Tür war. Und seine Kiefer schienen zu arbeiten. Was war das? Was aß er da? Noch eine Kartoffel? Erst da sah der Färber den nackten Schwanz, der wie ein Speichelfaden vom Mundwinkel des Jungen hing, und das graubraune Fell des Dings, auf dem seine gelben Zähne herumkauten.
    Wenn er zuvor Sympathie, Mitgefühl, eine innere Verbindung gespürt hatte, so empfand der Färber jetzt nur noch Abscheu. Er war ein alter Mann, seit vierundfünfzig Jahren auf dieser Erde, und Marie-Thérèse war nunmehr seit beinahe einem halben Jahrhundert tot. Das hier ging ihn nichts an. Gar nichts. Behutsam, vorsichtig, mit geschärftenSinnen, als wäre er zusammen mit einem wilden, reißenden Tier eingesperrt, wich er zur Tür zurück, schlüpfte hindurch und verschloss sie.

    Am späten Nachmittag, während ein kalter Regen auf die Straßen von Saint-Sernin und das Land ringsum fiel, wurde das wilde Kind der Wissenschaft und durch sie der Berühmtheit anheimgegeben. Nachdem er einen seiner großen gusseisernen Färbekessel über den Hof und vor die Tür gewälzt hatte, war Vidal auf dem kürzesten Weg zu Jean-Jacques Constans-Saint-Estève gegangen, dem für Saint-Sernin zuständigen Regierungskommissar, um ihm Bericht zu erstatten und die Verantwortung für dieses in seiner Hütte

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