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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Errichtung eines Wissenssystems sei. Als Beispiel verwies man auf das juristische System, nach dem wir leben und das von unermeßlicher Bedeutung für uns ist. Meine damaligen romantischen Vorstellungen hinderten mich jedoch daran, mich für einen anthropologischen Rechtsanwalt zu halten. Ich hatte das Konzept, daß Anthropologie die Matrix allen menschlichen Strebens oder der Maßstab des Menschen sein soll, mit allem Drum und Dran verinnerlicht.
    Don Juan, ein absoluter Pragmatiker, ein wahrer Krieger-Wanderer auf dem Weg des Unbekannten, fand, das sei eine dumme Übertreibung. Er erklärte, es sei bedeutungslos, daß es sich bei anthropologischen Themen, die man mir vorlegte, um Manöver mit Worten und Konzepten handle, wichtig sei nur die Anwendung von Disziplin.
    »Es ist völlig gleichgültig«, sagte er mir einmal, »daß du ein guter Leser bist und viele wunderbare Bücher lesen kannst. Wichtig ist, daß du die Disziplin aufbringst zu lesen, was du nicht lesen willst. Wenn ein Zauberer lernt, ist der entscheidende Punkt der Übung, was er zurückweist, nicht das, was er akzeptiert.« Ich beschieß, eine Weile mit dem Studium auszusetzen, und begann, in der graphischen Abteilung einer Firma zu arbeiten, die Abziehbilder herstellte. Die Arbeit nahm meine Kräfte und meine Gedanken voll in Anspruch. Die Herausforderung lag für mich darin, die mir übertragenen Aufgaben so perfekt und so schnell zu erledigen, wie ich nur konnte. Das Vorbereiten der Plastikbögen mit den Motiven, die im Siebdruckverfahren zu Abziehbildern gemacht werden sollten, war eine Standardprozedur, die keine Neuerungen erlaubte, und die Effizienz des Arbeiters wurde an seiner Exaktheit und Schnelligkeit gemessen. Ich wurde zum Workaholic, und die Arbeit machte mir riesigen Spaß.
    Der Abteilungsleiter und ich wurden sehr schnell Freunde. Er nahm mich praktisch unter seine Fittiche. Er hieß Ernest Lipton. Ich bewunderte und respektierte ihn sehr. Er war ein guter Künstler und ein hervorragender Handwerker. Doch ihm fehlte auch ein Mindestmaß an Härte und Durchsetzungsvermögen. Zu seinem Wesen gehörte eine unglaubliche Rücksichtnahme auf andere, die an lähmende Passivität grenzte. Eines Tages fuhren wir zum Beispiel vom Parkplatz eines Restaurants, in dem wir zu Mittag gegessen hatten. Er wartete sehr höflich darauf, daß ein anderer Wagen vor ihm den Stellplatz verließ. Der Fahrer sah uns offenbar nicht und fuhr sehr schnell rückwärts aus dem Stellplatz. Ernest Lipton hätte ohne weiteres hupen können, um den Mann zu warnen. Statt dessen saß er da und grinste wie ein Schwachkopf, als der Mann seinen Wagen rammte. Dann drehte er sich zu mir herüber und sagte entschuldigend: »Sicher, ich hätte hupen können, aber meine Hupe ist so verdammt laut, daß mir der Lärm peinlich ist.«
    Der Mann, der den Wagen von Ernest gerammt hatte, regte sich ungeheuer auf und musste beruhigt werden. »Keine Sorge«, sagte Ernest, »Ihrem Wagen ist nichts passiert. Außerdem haben Sie nur meine Scheinwerfer beschädigt, und die wollte ich ohnehin erneuern.« Ein anderes Mal saßen wir mit ein paar Japanern, die er zum Mittagessen eingeladen hatte, in demselben Restaurant. Sie unterhielten sich lebhaft mit uns und stellten Fragen. Der Kellner kam mit dem Essen und räumte ein paar Salatteller ab, um auf dem schmalen Tisch, so gut es ging, Platz für die großen heißen Platten mit der Hauptvorspeise zu schaffen. Einer der japanischen Kunden schob seinen Teller etwas vor. Dadurch geriet der Teller von Ernest in Bewegung und fiel herunter. Auch diesmal hätte Ernest den Mann rechtzeitig warnen können, aber er tat es nicht. Er saß lächelnd da, bis ihm der Teller auf den Schoß fiel.
    Bei einer anderen Gelegenheit ging ich in sein Haus. Ich wollte ihm dabei helfen, eine Pergola in seinem Innenhof aufzustellen, wo er Weinreben pflanzen wollte, um Schatten und Weintrauben zu haben. Wir befestigten die Kanthölzer in einem großen Rahmen, hoben ihn an einer Seite an und schraubten ihn an Balken fest. Ernest war ein großer, starker Mann. Er hob mit Hilfe eines Kantholzes die andere Seite des Rahmens an, damit ich ihn an den Stützbalken festschrauben konnte, in die bereits entsprechende Löcher gebohrt waren. Doch bevor ich die Schrauben festziehen konnte, klopfte jemand an die Haustür, und Ernest bat mich nachzusehen, wer es sei, während er den Rahmen mit den Kanthölzern hochhielt. Vor der Tür stand seine Frau mit Einkaufstüten. Sie begann

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