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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ein längeres Gespräch, und ich vergaß Ernest. Ich half ihr sogar, die Lebensmittel wegzuräumen. Während ich den Sellerie in den Kühlschrank legte, fiel mir ein, daß mein Freund immer noch den Rahmen mit den Kanthölzern hielt. So wie ich ihn kannte, wusste ich, er würde das immer noch tun, weil es für ihn selbstverständlich war, daß alle die gleiche Rücksichtnahme aufbrachten wie er. Ich rannte hinter das Haus. Er lag auf der Erde. Er war vor Erschöpfung zusammengebrochen. Wir mussten Freunde rufen, die uns halfen, den schweren Rahmen mit den Kanthölzern hochzuheben. Ernest war dazu nicht mehr in der Lage. Er musste sich ins Bett legen. Er war überzeugt, sich einen Bruch gehoben zu haben. Jeder von uns kannte natürlich die klassische Ernest-Lipton-Geschichte. Ernest fuhr an einem Wochenende mit ein paar Freunden zum Wandern in die San- Bernardino-Berge. Sie zelteten im Freien. Während alle anderen schliefen, ging Ernest Lipton in die Büsche, und da er ein sehr rücksichtsvoller Mensch war, entfernte er sich ein ganzes Stück vom Lager, um niemanden zu stören. In der Dunkelheit rutschte er aus und rollte den steilen Berghang hinunter. Hinterher sagte er seinen Freunden, ihm sei völlig klar gewesen, er würde bis zur Talsohle fallen und den Sturz nicht überleben. Zum Glück gelang es ihm, sich an einem schmalen Felsvorsprung festzuhalten. Dort hing er stundenlang in der Dunkelheit und suchte verzweifelt mit den Füßen nach Halt, denn die Kraft in seinen Armen ließ immer mehr nach. Er war jedoch entschlossen, sich festzuklammern, solange noch Leben in ihm war. Er streckte und spreizte die Beine, so weit er konnte, und fand kleine Felsvorsprünge, auf denen er sich etwas abstützen konnte. So klebte er am Felsen wie eines der Abziehbilder, die er herstellte, bis es hell genug wurde, um zu erkennen, daß er nicht einmal einen halben Meter über dem Boden hing. Seine Freunde machten ihm Vorwürfe. »Ernest, du hättest doch um Hilfe rufen können!« »Ach, ich habe gedacht, das nützt nichts«, erwiderte er. »Wer hätte mich hören sollen? Ich habe gedacht, ich wäre mindestens eine Meile ins Tal hinuntergerollt. Außerdem habt ihr alle geschlafen.« Der letzte Schlag kam für mich, als Ernest Lipton, der jeden Tag zwei Stunden von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück fuhr, beschloß, ein sparsames Auto zu kaufen, einen VW Käfer. Er begann zu messen, wie viele Meilen er mit einer Gallone Benzin fahren konnte. Ich war sehr überrascht, als er eines Morgens verkündete, er habe mit einer Gallone hundertfünfundzwanzig Meilen geschafft. Als sehr genauer Mensch präzisierte er diese Feststellung und sagte, er fahre die meiste Zeit nicht in der Stadt, sondern auf der Autobahn, obwohl er zur Zeit des dichtesten Verkehrs oft verlangsamen und wieder beschleunigen müsse. Eine Woche später erklärte er, mit einer Gallone zweihundertfünfzig Meilen gefahren zu sein. Das wundersame Ergebnis steigerte sich, bis er eine unglaubliche Strecke erreichte: sechshundertfünfundvierzig Meilen pro Gallone. Seine Freunde rieten ihm, Volkswagen über dieses Ergebnis zu informieren. Ernest Lipton freute sich über alle Maßen und verkündete stolz, er fange bereits an, darüber nachzudenken, was er tun soll, wenn er die tausend-Meilen-Grenze erreicht habe. Seine Freunde sagten, dann könne er behaupten, er habe ein Wunder vollbracht.
    Diese außergewöhnliche Situation dauerte an, bis Ernest eines Tages einen seiner Freunde überraschte, der ihm seit Monaten einen uralten Streich spielte. Er hatte jeden Morgen Benzin in den Tank gefüllt, so daß die Füllanzeige niemals auf leer stand. Ernest Lipton wurde beinahe wütend. Sein schroffer Kommentar war: »Ach, soll das vielleicht komisch sein?«
    Ich hatte seit Wochen gewußt, daß seine Freunde ihn zum Narren hielten, konnte aber nicht eingreifen. Ich war der Ansicht, das gehe mich nichts an. Die Leute, die Ernest diesen Streich spielten, waren seine lebenslangen Freunde. Ich war ein Neuling. Als ich seinen enttäuschten und verletzten Gesichtsausdruck sah und seine Unfähigkeit, wütend zu werden, hatte ich Schuldgefühle, und ich bekam Angst. Ich stand wieder vor einem meiner alten Feinde. Ich verachtete Ernest Lipton, und gleichzeitig mochte ich ihn mehr denn je. Er war hilflos. Der eigentliche Grund war, daß Ernest Lipton wie mein Vater aussah. Seine Brille mit den dicken Gläsern, der zurückweichende Haaransatz und die grauen Bartstoppeln, die er nie ganz glatt

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