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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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rasieren konnte, riefen mir das Gesicht meines Vaters ins Gedächtnis. Er hatte die gleiche gerade spitze Nase und das gleiche spitze Kinn. Als ich Ernest Liptons Unfähigkeit sah, wütend zu werden und den Spaßvögeln den Kopf zurechtzurücken, machte das für mich die Ähnlichkeit mit meinem Vater vollkommen und trieb sie über eine sichere Grenze hinaus. Ich erinnerte mich, daß mein Vater bis über beide Ohren in die Schwester seines besten Freundes verliebt gewesen war. Ich entdeckte sie eines Tages händchenhaltend mit einem jungen Mann in einem Ferienort. Ihre Mutter spielte die Rolle der Anstandsdame. Das Mädchen schien sehr glücklich zu sein. Die beiden jungen Leute sahen sich verzückt an. Soweit ich es beurteilen konnte, war es die große Liebe, wie sie im Buch steht. Als ich meinen Vater sah, erzählte ich ihm mit großem Genuß und der ganzen Bosheit meiner zehn Jahre, daß seine Freundin einen wirklichen Verehrer hatte. Er war bestürzt. Er glaubte mir nicht. « »Aber hast du ihr überhaupt etwas gesagt?« fragte ich frech. »Weiß sie, daß du in sie verliebt bist?« »Halt den Mund, du Grünschnabel!« fuhr er mich an. »Ich muss keiner Frau so einen Scheiß sagen!« Er sah mich wie ein verwöhntes Kind schmollend an, und seine Lippen bebten vor Zorn.
    »Sie gehört mir! Sie müßte wissen, daß sie meine Frau ist, ohne daß ich ihr überhaupt etwas sagen muss!« Das verkündete er mit der vollen Überzeugung eines Kindes, dem alles im Leben geschenkt wird, ohne daß es darum kämpfen muss.
    Ich befand mich in Höchstform und versetzte ihm den eigentlichen Tiefschlag. »Nun ja«, erklärte ich, »ich glaube, sie hat erwartet, daß ihr das jemand sagt, und gerade ist dir jemand damit zuvorgekommen.« Ich war bereit, mich mit einem Sprung außer Reichweite zu bringen und davonzurennen, denn ich glaubte, er würde mich in seinem maßlosen Zorn schlagen. Statt dessen brach er zusammen und begann zu weinen. Unter unkontrollierbarem Schluchzen bat er mich, seiner Freundin nachzuspionieren und ihm zu sagen, was vorging, denn ich sei schließlich zu allem fähig. , Ich empfand für meinen Vater eine unaussprechliche Verachtung, und gleichzeitig liebte ich ihn mit einer Traurigkeit ohnegleichen. Ich verwünschte mich, weil ich ihn in diese Schande gestürzt hatte. Ernest Lipton erinnerte mich so sehr an meinen Vater, daß ich meine Arbeit unter dem Vorwand aufgab, ich müsse an die Universität zurück. Ich wollte die Last nicht noch vergrößern, die ich bereits auf den Schultern trug. Ich hatte mir nie verziehen, daß ich meinem Vater diesen Schmerz zugefügt hatte, und ich hatte ihm nie verziehen, daß er so feige gewesen war.
    Ich ging zurück zur Universität und nahm die schwere Aufgabe in Angriff, mich wieder in meinem Anthropologiestudium zurechtzufinden. Die Integration wurde durch die Tatsache sehr schwierig, daß es zwar jemanden gab, mit dem ich wegen seines bewundernswerten Stils, seiner kühnen Neugier und der Bereitschaft, sein Wissen zu erweitern, ohne nervös zu werden oder unhaltbare Standpunkte zu verteidigen, problemlos und mit Freuden hätte zusammenarbeiten können, aber er gehörte nicht in meinen Fachbereich. Es war ein Archäologe. Unter seinem Einfluß hatte ich mich überhaupt erst für Feldarbeit interessiert. Vielleicht machte die Tatsache, daß er tatsächlich hinausging und seine Informationen im wahrsten Sinne des Wortes ausgrub, seine praktische Art für mich zu einer Oase der Nüchternheit. Er hatte mich als einziger ermutigt, mit Feldarbeit zu beginnen, weil ich nichts zu verlieren hatte.
    »Verlieren Sie alles, und Sie werden alles gewinnen«, sagte er mir einmal, und das war der vernünftigste Rat, den ich in der akademischen Welt jemals bekommen habe. Wenn ich Don Juans Rat befolgte und darauf hinarbeitete, meine zwanghafte Neigung zur Selbstreflexion zu korrigieren, hatte ich in der Tat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Aber diese Möglichkeit stand mir damals nicht offen.
    Als ich Don Juan von den Schwierigkeiten erzählte, denen ich bei der Suche nach einem kooperativen Professor begegnete, fand ich, daß er gemein reagierte. Er nannte mich einen kleinkarierten Furz und sogar noch Schlimmeres. Er sagte, was ich selbst schon wusste. Wenn ich nicht unter so großen Spannungen stünde, könnte ich mit jedermann an der Universität oder im Geschäftsleben zusammenarbeiten. »Krieger-Wanderer beschweren sich nicht«, fuhr Don Juan fort. »Sie betrachten alles,

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