Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
tausenden von Seiten niedergeschrieben stand. Das war Niccolos liebste Erinnerung an seinen Vater: tief gebeugt über eines der vielen Bücher, die er gegen das ausdrückliche Verbot des Herzogs von den Geheimen Händlern gekauft hatte.
Cesare war wissbegierig gewesen, ein nimmersatter Leser, Forscher und kluger Denker. Er hatte sich bemüht, so viel wie möglich davon an seinen Sohn weiterzugeben, aber Niccolo hatte früh erkannt, dass er Cesare nicht das Wasser reichen konnte. Er lernte viel, weit mehr als die anderen Kinder und Jugendlichen auf der Wolkeninsel, aber er tat es nur, solange es ihm keine Mühe machte. Die Sprachen des Erdbodens waren sein Steckenpferd, er hatte sie beinahe wie von selbst erlernt, allein durch die Gespräche mit seinem Vater. Und geredet hatten sie viel, Stunde um Stunde, Tag um Tag, in dieser oder jener Sprache.
Er hat sich gewünscht, dass ich ein Gelehrter werde wi e e r, dachte Niccolo niedergeschlagen. Aber das wäre ich niemals geworden, selbst dann nicht, wenn der Wind und der Abgrund ihn mir nicht weggenommen hätten.
Die Bö hatte Cesare vor über einem Jahr in die Tiefe gerissen. Seither lebte Niccolo allein in einem Haus voller Bücher, einer Höhle aus Erinnerungen. Er kümmerte sich um die beiden Kühe und die Schweine, und wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, tauschte er auf dem Markt Milch und Käse gegen Eier. Hier draußen, so nah am Rand, konnte man keine Hühner halten. Die Gefahr, dass ein Wind sie erfasste und davonriss, war zu groß. Deshalb lagen die großen Höfe, wie überhaupt die meisten Häuser, im Inneren der Wolkeninsel, über zwei Kilometer vom Rand entfernt.
Das fliegende Eiland selbst war gewaltig, ein Gebirge aus Wolkentürmen und einem tiefen Tal in der Mitte. Der Wind wehte es willkürlich über die Länder des Bodens hinweg. Das Volk der Hohen Lüfte hatte sich weitab vom gefährlichen Rand angesiedelt, trieb Ackerbau in Mulden, in denen Erdreich aufgeschüttet worden war, lebte von Viehzucht und der Jagd auf Vögel.
Es war ein einfaches Leben, ein Dasein voller Entbehrungen. Cesare hatte sich damit nicht abfinden wollen, und darin war Niccolo ihm ähnlich. Er träumte von der Weite des Erdbodens, von den Ländern, die in Cesares Büchern beschrieben wurden, von fremden Kulturen, fantastischen Landschaften. Und von Bäumen, die es auf der Wolkeninsel nicht gab.
Niccolo warf einen letzten Blick in die Tiefe, die seinen Vater getötet hatte und von der er sich doch nur widerwillig lösen konnte. Langsam ging er zurück zum Haus.
Dort fütterte er die Schweine, streichelte ihr borstiges Fell und sprach mit ihnen wie mit Freunden; sie waren die einzigen, die er hatte.
Am Nachmittag schulterte er seine Armbrust, hängte sich eine Rolle Seil an den Gürtel und machte sich an den Aufstieg auf den höchsten der fünf Wolkenberge, die das Tal im Zentrum der Insel umgaben. Die Heimat des Wolkenvolks hatte Ähnlichkeit mit einer schalenförmig geöffneten Hand, mehrere Kilometer im Durchmesser. Der höchste der fünf Berge erhob sich – gemessen vom tiefsten Punkt des Tals aus – gute achthundert Meter hoch, ein Koloss aus aufgebauschten Wolken, seit zweihundertfünfzig Jahren zu dieser Form erstarrt wie gepresster Schnee.
Wenige vom Volk der Hohen Lüfte gingen dort hinauf. Die meisten gaben sich mit der Jagd an den Wolkenhängen eines niedrigeren Berges zufrieden. Auch Niccolo hätte sich die Mühe des Aufstiegs ersparen können, denn Vogelschwärme gab es an jedem Ort der Insel im Überfluss. Trotzdem kletterte er gerne auf dem Berg herum, hangelte sich von einem Dunstvorsprung zum nächsten und betrachtete ehrfürchtig die Aetherpumpen, die sich auf den Gipfeln und Graten des Wolkengebirges erhoben wie schwarze, drohende Zeigefinger.
Er brauchte beinahe drei Stunden, ehe er auf der Bergkuppe ankam. Was er dort sah, überraschte ihn.
Er war nicht allein hier oben.
Mehrere Gestalten hatten sich zwischen dem halben Dutzend Pumpen versammelt, die von hier aus den Aether aus den höher gelegenen Himmelsregionen herabsaugten. Die rätselhafte Substanz, über die kaum jeman d m ehr wusste als den Namen, verlieh der Wolkeninsel Festigkeit und Flugkraft. Sie war die Lebensgrundlage des Volks der Hohen Lüfte, das Fundament ihrer abgeschiedenen Existenz hier oben am Himmel.
Niccolo ging hinter einer Wolkenwehe in Deckung und hängte die Armbrust über seine Schulter. Er hatte vier Tauben gescho s sen, die leblos an seinem Gürtel baumelten. Weil
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