Das Wolkenzimmer
aufmachen?«
»Ich zweifle nicht daran, dass du es kannst. Ich allerdings öffne die Fenster am Morgen, wenn es kühl ist.«
Veronika runzelt die Stirn, als sie das Nein begriffen hat. Sie fängt an, ein Brot mit Käse zu beschmieren, sehr sorgfältig, sehr genau. Sie besieht sich das Ergebnis, nimmt eine Birne, dreht sich vom Türmer weg und zieht die Beine auf die Bank, wie sie das immer macht. Sie beißt abwechselnd vom Brot und von der Birne ab und starrt durchs Fenster zum fernen Talrand hinüber. Der Hügelzug sieht geschlossen aus, eine Straße ist nicht zu erkennen. Doch dürfte dort die Stelle sein, an der sie eine Rast erzwungen hat. Von der aus sie die Stadt in der Ebene und mittendrin den Turm gesehen hat. Wo sie ganz und gar unvernünftig gesagt hat: Ich will auf den Turm da, lass uns hierbleiben. Und Mattis gesagt hat: Wir wollten nach Italien. Und wo es dann zu gar keiner Rast kam. Es kam zum Schnitt. Mit einem Hieb getrennt. Zu spät für Reue.
Der plötzliche Druck in Veronikas Brust nimmt ihr fast die Luft. Ihr Ausweichmanöver hat nicht funktioniert, schon sind die Gedanken entgleist. Sie legt den Birnenrest auf ihren Teller und wischt sich die zitternde Hand am T-Shirt ab. Der Türmer schiebt wortlos eine Serviette über den Tisch. Als hätte er mit seiner Bewegung das Nein aufgehoben, streckt sich Veronika nach dem Fensterriegel. Sie macht das Fenster einen Spalt auf, schiebt die Hand hinaus und konzentriert sich auf die Empfindung ihrer Haut da draußen. Der akute Schmerz in ihrer Brust ebbt ab. Nach einer Weile schließt sie das Fenster wieder. Sie setzt sich umständlich gerade, nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und sieht den Türmer an.
»Wieso schwankt der Turm, obwohl es völlig windstill ist?« Sie räuspert sich nachträglich, sie hat nun, ohne es eigentlich zu wollen, ihr Schweigen aufgegeben.
»Er schwankt auch, wenn die Glocken läuten«, sagt der Türmer.
»Jetzt läuten aber keine Glocken«, sagt Veronika. »Ich habe hier überhaupt erst einmal Glocken gehört.«
»Eben deshalb«, sagt der Türmer.
Völlig unverständliche Antwort. Veronika verzieht das Gesicht. Sie stößt hervor: »Diesen amerikanischen Akzent, brauchen Sie den bei mir? Können Sie den nicht vielleicht weglassen?«
Sein Tonfall und seine Sprache versetzen sie in hilflose Wut; einen solchen Akzent hatte Mattis’ Austauschpartnerin, die letztes Schuljahr für ein paar Monate in Deutschland war. Diana besaß allerdings nicht den Wortschatz des Türmers. Nicht annähernd. Ich allerdings öffne die Fenster am Morgen, wenn es kühl ist. Wie gewählt. Diana sprach ein gebrochenes, dürftiges, fehlerhaftes Deutsch. Doch mit unnachahmlichem Akzent. Über den Mattis lächeln konnte wie ein Idiot.
»Ich bin Amerikaner«, sagt der Türmer.
Veronika glotzt. Wer noch lebt, bekommt Hunger. Wer noch lebt, wird von Reue gepackt, das ist schlimmer, es ist vielleicht das Schlimmste. Wer noch lebt, kann aber auch überrumpelt werden und staunen.
»Was? Amerikaner? Auf diesem Turm? In so einer mittelalterlichen... ich meine, in so einer... richtig deutschen Stadt?«
»In so einer richtig deutschen Stadt.« Der Türmer lächelt amüsiert.
»Das ist aber kein normaler Job für einen Amerikaner!« Er schält bedächtig einen Apfel. »Für wen dann?«, will er wissen.
»Das ist überhaupt kein normaler Job! Aber warum gerade Sie?«
»Mein Vorgänger«, sagt er, »wurde mit seinem Einverständnis und einer Rente, die ich teilfinanziere, in den Ruhestand geschickt.«
Veronika starrt ihn an. »Aber warum? Kein Mensch geht freiwillig für immer auf einen Turm!« Wahrscheinlich hat er eine Europareise gemacht und sich in den Turm verguckt; bestimmt ist er stinkreich und kann sich jede Verrücktheit leisten. Ist vielleicht auf einem Urlaubstrip hier hängen geblieben. Was nicht dazu passt, ist seine Sprache, der Amerikaner spricht Deutsch nicht nur besser als die unnachahmliche Diana, sondern auch besser als sie, Veronika, oder zumindest gewählter, den Akzent mal beiseitegelassen.
»Sie sind vielleicht auf einem Urlaubstrip hier hängen geblieben?«, fragt sie zweifelnd.
Der Amerikaner reagiert nicht. Er scheint vergessen zu haben, dass sie mit ihm am Tisch sitzt. Tief in Gedanken beginnt er, eine Scheibe Brot in Krümel zu zerlegen.
Nun gut, es geht sie ja nichts an. Eine mürrische Bemerkung liegt ihr auf der Zunge. Doch da fällt ihr auf, dass sich seine Haltung unmerklich verändert hat, straffer geworden ist, und
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