Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Wilhelm Leibniz unabhängig von ihm zur gleichen Zeit gelang) und beschrieb mit ihrer Hilfe die drei Bewegungsgesetze. Dabei verknüpfte Newton Physik und Astronomie und verdeutlichte, dass sich selbst die tiefsten Wahrheiten des Universums mit naturwissenschaftlichen Verfahren aufdecken ließen.
Diese Leistungen wurden 1660 mit der Gründung der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt gefeiert – der »Royal Society of London for Improving Natural Knowledge«, die Isaac Newton 1703 zu ihrem Präsidenten wählte. Für die Gründer der Royal Society war Gott ein Mathematiker, gemäß dessen Planung das Weltall nach logischen und mathematischen Prinzipien funktionierte. Die Aufgabe des Wissenschaftlers – des Naturphilosophen – bestand darin, mit wissenschaftlichen Verfahren die dem Universum zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien zu entdecken und auf diese Weise den Code zu entschlüsseln, nach dem Gott den Kosmos erschaffen hatte.
Die Erfolge auf dem Gebiet der Wissenschaft brachten Denker des 18. Jahrhunderts zu der Annahme, dass sich andere Aspekte menschlichen Verhaltens, darunter politisches Handeln, Kreativität und Kunst, durch Einsatz von Vernunft verbessern ließen, was letztlich zu einer besseren Gesellschaft und angenehmeren Lebensbedingungen für alle Menschen führen würde. Dieses Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft beeinflusste alle Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Europa und breitete sich bald auch auf die nordamerikanischen Kolonien aus. Dort förderten wohl die Ideen der Aufklärung, wonach Vernunft zu einer besseren Gesellschaft beitragen kann und rational denkende Menschen ein Naturrecht auf das Streben nach Glück besitzen, die von Thomas Jefferson begründete Demokratie, die die Vereinigten Staaten bis heute auszeichnet.
DIE MODERNISTISCHE REAKTION AUF die Aufklärung erfolgte in den Nachwehen der Industriellen Revolution, deren verrohende Auswirkungen bezeugten, dass das moderne Leben nicht so mathematisch perfekt oder so verlässlich, rational und aufgeklärt war, wie die Fortschritte im 18. Jahrhundert die Menschen hatten hoffen lassen. Die Wahrheit war weder immer schön, noch war sie stets leicht zu finden. Häufig lag sie im Verborgenen. Und außerdem wurde das menschliche Denken nicht nur von Vernunft geleitet, sondern auch von irrationalen Gefühlen.
So wie Astronomie und Physik die Aufklärung inspirierten, inspirierte die Biologie die Moderne. Darwins Buch Die Entstehung der Arten von 1859 verkündete die Idee, dass die Menschen nicht als einzigartige Wesen von einem allmächtigen Gott erschaffen worden seien, sondern sich als biologische Kreaturen aus weniger komplexen tierischen Vorfahren entwickelt hätten. In seinen späteren Büchern spezifizierte Darwin diese Behauptungen und führte aus, dass die vorrangige biologische Funktion jedes Organismus darin bestehe, sich zu reproduzieren. Da wir aus einfacheren Tieren hervorgegangen seien, müssten wir über das gleiche triebhafte Verhalten wie andere Tiere verfügen. Demzufolge müsse auch der Geschlechtstrieb ein zentrales Merkmal menschlichen Verhaltens sein.
In der Kunst führte diese neue Sichtweise zu einer neuen Betrachtung der biologischen Natur menschlicher Existenz. Das zeigt sich in Édouard Manets Das Frühstück im Grünen von 1863, dem in Thema und Stil vielleicht ersten echten Gemälde der Moderne. Manets Bild offenbart in seiner zugleich schönen und schockierenden Darstellung ein für die Moderne zentrales Thema: die komplexe Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Der Künstler zeigt zwei vollständig und konventionell bekleidete Männer, die in einem bewaldeten Park im Gras sitzen und sich beim Essen unterhalten, während eine nackte Badende neben ihnen sitzt. In der Vergangenheit waren nackte Frauen in Gemälden als Göttinnen oder mythische Figuren dargestellt worden. Hier bricht Manet mit der Tradition und malt eine reale, lebendige, zeitgenössische Pariserin im Evaskostüm – sein Lieblingsmodell Victorine Meurent (Abb. 1-6). Ungeachtet der Attraktivität von Victorines üppigem Körper scheint sie den beiden Männern gleichgültig zu sein, und umgekehrt. Während die Männer offenkundig miteinander reden, wendet sich die nackte Frau, die Leugnung der Sexualität mit den Männern teilend, ausschließlich dem Betrachter zu. Neben seinem verblüffend modernen Thema weist das Gemälde auch faszinierend moderne Stilmerkmale auf.
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