Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Ausbildung an der Universität Wien im Jahre 1873, als der Einfluss Rokitanskys am größten war. Demzufolge scheinen Freuds frühe Theorien in wichtigen Aspekten vom Rokitansky’schen Geist jener Zeit geformt worden zu sein. Dieser Geist lebte auch noch nach Rokitanskys Ausscheiden aus der Medizinischen Schule weiter: Ernst Wilhelm von Brücke und Theodor Meynert, zwei von Freuds Mentoren, wurden von Rokitansky berufen, und Freuds Kollege Josef Breuer studierte bei ihm.
Schnitzler, der in den letzten Jahren von Rokitanskys Leitung ebenfalls Student an der Medizinischen Schule war und mit Rokitanskys Assistenten Emil Zuckerkandl zusammenarbeitete, berief sich in seinen literarischen Werken auf unbewusste mentale Prozesse. Schnitzlers analytische Beschreibungen seiner lebhaften, nahezu unersättlichen sexuellen Lust hatten einen großen Einfluss auf das Denken der jungen Wiener Männer seiner Generation. Ganz ähnlich wie Freud erforschte Schnitzler die unbewusste Psychologie der Sexualität wie auch der Aggression.
Die gleiche Faszination vom Unbewussten zeigt sich auch in den Zeichnungen und Gemälden von Klimt, Kokoschka und Schiele. Sie standen ebenfalls unter Rokitanskys Einfluss, als sie mit der künstlerischen Vergangenheit brachen und Sexualität und Aggression auf eine neue Weise darstellten. Während Freud und Schnitzler von der Medizinischen Schule geprägt wurden, studierte Klimt bei Zuckerkandl inoffiziell Biologie. Schiele wurde indirekt über Klimt von Rokitansky beeinflusst. Kokoschka brachte sich selbst bei, tief unter der Oberfläche zu forschen, und demonstrierte dies mit gefeierten, durchdringenden Darstellungen der innersten Gedanken und Bedürfnisse seiner Modelle.
OBWOHL FREUD, SCHNITZLER und die Künstler der Moderne gleichermaßen von unbewussten Trieben fasziniert waren, die sie als Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens betrachteten, arbeiteten sie nicht als Gruppe. Freud und Schnitzler hatten die Künstler zweifellos geprägt, doch unter dem Einfluss von »Wien 1900« ging jeder seinen ganz eigenen Weg.
Freud dachte sehr viel systematischer als die anderen vier. Er fasste den Rokitansky’schen Zeitgeist in eine einfache, elegante Sprache und wandte ihn auf die Erforschung der menschlichen Seele an, indem er tief unter die Oberfläche geistiger Erscheinungen drang und bis zu dem darunterliegenden psychologischen Konflikt vorstieß. Vor allem aber nutzte er diese Sicht, um eine kohärente, detaillierte und reichhaltige »Theorie des Geistes« zu entwickeln, mit deren Hilfe er sowohl normales als auch abnormes Verhalten erklärte. Freuds Theorie unterschied sich insofern von der Sichtweise Schnitzlers und der Künstler, ja sogar von der Nietzsches, als sie den menschlichen Geist als eine Domäne der empirischen Forschung behandelte und nicht als eine Plattform für philosophische Spekulationen. Freuds Theorie des Geistes gilt als der erste Versuch, etwas zu entwickeln, das später Kognitionspsychologie genannt werden sollte – ein Versuch, die Komplexität des menschlichen Denkens und Fühlens systematisch mithilfe der mentalen Repräsentationen der Außenwelt zu erklären. Und schließlich entwickelte Freud, teilweise gestützt auf seine kognitive Theorie des Geistes, eine Therapie zur Linderung persönlicher Leiden.
Paul Robinson, ein Philosoph unserer Zeit, betont Freuds geistiges Vermächtnis in der Sprache der Rokitansky-Generation:
Er ist der Hauptgrund für unsere moderne Neigung, unter der Oberfläche des Verhaltens nach dem eigentlichen Sinn zu suchen – immer aufmerksam nach der »wahren« (und vermutlich verborgenen) Bedeutung unseres Handelns auszuspähen. Außerdem nährt er unsere Überzeugung, dass sich die Rätsel der Gegenwart besser klären lassen, wenn wir sie zu ihren Ursprüngen in der Vergangenheit, vielleicht sogar in der frühesten Vergangenheit, zurückverfolgen. … Und schließlich hat er uns für die Erotik sensibilisiert, insbesondere für ihr Auftreten in Bereichen …, in denen frühere Generationen nie nach ihr gesucht hätten. 5
Freud verwies mit Nachdruck darauf, dass ein großer Teil des geistigen Lebens unbewusst bleibt – es wird uns nur in Gestalt von Wörtern und Bildern bewusst. Und genau dies haben er, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele mit ihren Texten und Gemälden vollbracht. Sie setzten sich nicht nur mit ähnlichen Themen der sie umgebenden Kultur auseinander, sondern teilten in ihrer jeweiligen Arbeit auch das
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