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Isola - Roman

Isola - Roman

Titel: Isola - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Eins
    E r war wie jedes Jahr um diese Zeit der einzige Mensch im Garten des Evangelischen Klinikums in Berlin. Es war sechs Uhr morgens, am Himmel stand noch der Mond und die kleinen Scheinwerfer auf der Wiese funkelten wie wachsame Augen. Aus einem der Fenster drang leise klassische Musik. Lauschend wandte er den Kopf. La Mer, von Debussy. Er lächelte, als wäre die Musik ein Zeichen, und das war sie ja auch. Langsam ging er auf den weißen Marmorengel zu. Die kleine Statue stand im hinteren Winkel des Gartens vor der Birke, an deren Zweigen sich die letzten Blätter festhielten. Ihm schien, als wären es in diesem Jahr noch weniger Blätter als sonst. Behutsam wickelte er die Orchidee aus dem braunen Papier und legte sie dem weißen Marmorengel in die steinernen Hände. Der Engel lächelte nicht. Still und stumm stand er da, genau wie immer. Von Norden her wehte ein schneidend kalter Wind und über der Wiese lag wie eine dünne Decke der Nebel. Aber die tiefrote Blüte strahlte Wärme aus. Wärme, Licht und Leben.
    Er hatte Friedhöfe nie gemocht und verstand nicht, warum man die Toten dort besuchte. Mirjam hatte ihre letzten Stunden hier verbracht, hinter einem dieser Fenster, auf den Tag genau vor neunzehn Jahren. Auch das war ein Zeichen für ihn. Es war ein guter Tag zum Abschiednehmen.
    Der Wind blies jetzt noch unbarmherziger. Ein Blatt löste sich von der Birke und trieb lautlos durch die beißend kalte Luft. Er fing es mit den Händen auf, wischte den gefrorenen Tau von der Oberfläche und sah noch einmal auf die Orchidee. Die Musik hinter dem Fenster verstummte und das tiefe Rot der Blüte erinnerte ihn plötzlich an frisches Blut. Fröstelnd zog er die Schultern hoch.
    »Es tut mir so leid«, flüsterte er.
    Dann drehte er sich um und verließ den Garten.
    Es wurde Zeit. Seine Maschine ging in drei Stunden und am Tag darauf würde er auf der Insel sein. Vor den anderen natürlich. Wenn sie in der Luft waren, würde er schon am Ziel sein, um sie zu erwarten. Er rief sich noch einmal ihre Gesichter in Erinnerung und die Namen, die sie sich für ihre Zeit auf der Insel ausgesucht hatten. Wie passend sie waren, vor allem der Name von Raphael.
    ICH GLAUBE an die Bedeutung von Namen. Das ist schon damals so gewesen. Es gibt ein Zitat von John Steinbeck, das ich mir einmal aus einer Schullektüre herausgeschrieben habe und an das ich im Flugzeug plötzlich wieder denken musste. »Ich bin mir nie ganz klar darüber geworden«, so heißt es in Steinbecks Jenseits von Eden , »ob der Name sich nach dem Kind formt oder sich das Kind verändert, um zum Namen zu werden. Eines ist sicher: Wenn ein Mensch einen Spitznamen hat, so ist das ein Beweis dafür, dass ihm der gegebene Taufname unrichtig war.«
    Dabei war es in meinem Fall genau umgekehrt. Joy war der Name, den Erika und Bernhard für mich gewählt hatten, aber zu einer Joy war ich nicht geworden. Mein Geburtsname war Vera und zu diesem Namen würde ich nun zurückkehren. Als sich die Maschine auf der gestreuten Startfläche in Bewegung setzte, schneller und immer schneller wurde, nahm ich Abschied. Abschied von Deutschland, von der Kälte und dem Regen, von Erika und Bernhard und von Joy Reichert, meinem deutschen Namen. Es ist schwer, das Gemisch aus Gefühlen zu beschreiben, das in diesen Minuten in mir tobte, lauter und rasender als der Lärm um mich herum. Die Motoren heulten auf, mein Körper wurde in den Sitz gedrückt, alles vibrierte. Ich krallte meine Hände in die Lehnen und für einen kurzen Moment dachte ich, dass meine Entscheidung, auf die Insel zu fliegen, der helle Wahnsinn war. Dann, ganz plötzlich, wurde es ruhig. Wir hatten abgehoben.
    »Ihr erster Flug?«
    Der Sitz neben mir war frei, aber daneben, am Gang, saß ein älterer Herr. Freundlich lächelte er mich an. Der brasilianische Akzent in seiner Stimme ließ mein Herz noch schneller schlagen.
    Ich nickte und dachte, dass man nicht sprechen muss, um zu lügen.
    Dann sah ich aus dem Fenster. Frankfurt verschwand hinter den Wolken.
    Quint Tempelhoff würde jetzt schon auf der Insel sein. Er war sicher von Berlin aus geflogen, während wir, seine Besetzung, den Flug nach Rio von Frankfurt aus angetreten hatten. Wir waren zwölf, aber die anderen kannte ich nicht und der ältere Herr in meiner Reihe gehörte bestimmt nicht dazu. Sechs Jungen, sechs Mädchen sollten wir sein und alle saßen wir im selben Flieger. Das gehörte zu den spärlichen Informationen über unsere Besetzung, die ich

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