Das Zimmer
Bruchenbrücken, einem der ersten AIDA -Orte des Hessischen Fernsehens, als sie begannen, mit ihren Kameras die Provinz zu bereisen und es Aufbruch in den Alltag nannten, dann nach Ober-Wöllstadt, Nieder-Wöllstadt, Okarben, Großkarben, Dortelweil, jedes Kind kann bei uns diese Strecke aufzählen wie andere die Nationalmannschaft von 1974. Bad Vilbel, Bonames, die Station, die unterdessen ihren Namen verloren hat und heute Frankfurter Berg heißt, und immer weiter hinein nach Frankfurt, das schon ganz zusammengewachsen war und Ginnheim und Rödelheim und Eschersheim und alles Weitere bereits verschluckt hatte, und schließlich, nach siebenundzwanzig Minuten, steigt mein Onkel J. in Frankfurt aus, denn damals hatten die Züge noch keine Verspätung. Damals, in der Zeit des großen »noch«.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre war der Bahnhof ziemlich heruntergekommen, überhaupt legte man noch nicht einen solchen Wert auf geputzte Sauberkeit an öffentlichen Orten. Um den Frankfurter Hauptbahnhof herum herrschte damals ein Paradies wie heute im Internet. Nur hatte mannoch nicht direkt Zugriff aufs Konto. Meinem Onkel konnte jeweils nur genommen werden, was er im Portemonnaie hatte, und dort war nicht einmal eine EC-Karte, die gab es gar nicht. Man zahlte damals, wenn man nicht bar zahlte, noch mit Schecks, aber ich bin mir sicher, daß mein Onkel gar keine Schecks besaß. Vermutlich besaß er nicht einmal ein eigenes Bankkonto. Und wenn, hatte er keinen Zugang zu ihm, vermute ich. Er war die nie sich schließende Wunde der Familie. Da wollte alles hinausfließen, natürlich besonders am Frankfurter Hauptbahnhof, wo man noch zu wirklichen Frauen gehen konnte und nicht nur, wie heute, bloß in die Videokabine zu den Frauen auf dem Bildschirm, die allerdings billiger sind (heute ist um den Bahnhof eine Bannmeile für Bordelle gezogen). Aber ich weiß ja nichts über meinen Onkel dort in Frankfurt, ich kann nur vermuten. Und es ist auch erst kurz nach fünf Uhr morgens. Mein Onkel hat vermutlich nicht einmal das erste Bier getrunken. Dort in Frankfurt ist er allein und nicht mehr in der Familie oder unter den Bad Nauheimern, wo damals jeder jeden gekannt hat und alles gesehen wurde. In Frankfurt wurde man nicht gesehen als Wetterauer. Deshalb gingen die Wetterauer immer gern nach Frankfurt. In Frankfurt gab es alles, was man sich erträumte, in Bad Nauheim gab es nur den Bahnhofskiosk, nicht einmal Filme gab es. Noch in den achtziger Jahren und kurz vor dem Privatfernsehen wurde ich nachts von Mercedes-Benz-Fahrern auf der Straße angehalten und gefragt, wo man in Friedberg in der Wetterau noch einen Film sehen könne und ob ich da vielleicht mitkommen wolle. Dabei taxierten sie mich, ob denn ein Film dann eigentlich noch nötig wäre, wenn ich mitkäme. Für die, die zu Frauen wollten, kam ich auch immer stets in Frage damals, als ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt war. Der Übergang war geringfügig und fiel ihnen offenbar leicht. Lieber einen sechzehnjährigen Wetterauer als eine vierzigjährige Wetterauerin, und überhaupt lieber etwas in der Hand als nur auf der Leinwand. Aber wahrscheinlich fanden sie nirgends einen Film in der Wetterau und fuhren dann doch nach Frankfurt, wo es alles gab, rund um die Uhr, und wo einen keiner kannte. Da um den Hauptbahnhof herum Altbauzeilen stehen, die allesamt fünf- oder sechsstöckig sind, mußte man immer viele Treppen steigen, und das Treppensteigen wurde, als pars pro toto für den Ausflug zum Paradies um den Frankfurter Hauptbahnhof herum, schließlich der Begriff für den ganzen Vorgang. Wir nannten es Treppensteigen, wenn wir nach Frankfurt fuhren. Wir, die Wetterauer, ich nicht – ich war damals noch zu jung. Meistens waren es Männer, die hinter mir her waren. Es gab auch eine Anzahl blonder, nicht mehr ganz junger, eigentlich schon alter und also künstlich blonder Frauen, die unbedingt etwas in der Hand haben wollten und nicht nur auf der Leinwand. Dafür sollte dann ich herhalten. Und es war ganz normal und gar nicht anders denkbar. Diese Sehnsuchtsgestalten, und ich unter sie gefallen.
Obgleich J. einen Behindertenausweis hatte und beim Versorgungsamt entsprechend eingestuft war, ging er auf die Post arbeiten, dazu hatte man ihn veranlaßt, wenn auch vergleichsweise spät in seinem Leben, denn ansonsten wäre er fortwährend zu Hause geblieben oder in den Wirtschaften, bei den Frauen oder beim Bier oder nur bei letzterem, und so trug er nun zum
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