Das Zimmer
Tages. Das war bis vor kurzem noch ganz normal in unserem Land. Früher trank dieses Land. Heute würde jeder Müllmann sofort entlassen, wenn er um neun Uhr schon drei Liter Bier intus hätte. Wenn heute im Fernsehen die Firma Hesselbach aus der Zeit meines Onkels läuft, dann trinken da auch alle Bier, wann immer sie wollen, ab frühmorgens. Und die Menschen waren rot und glücklich, und es war ihr Leben, undmanchmal starben sie sogar noch zu Hause, was mein Onkel J. aber nicht mehr erlebt hat, er starb im Krankenhaus, am zweiten Tag. Er litt nicht lange, hieß es, meine Familie glaubt seitdem, sie hätten ihn im Krankenhaus umgebracht, das ist nicht unwahrscheinlich. Erst hatte sich meine Großmutter ein Leben lang um ihn gekümmert, anschließend vegetierte er noch einige Jahre in einer anderen Wohnung mit seiner späten Freundin Rosl, und als er ins Krankenhaus kam, wurde er schnell entsorgt. Einige Zeit muß er noch unter Strom verbracht haben, nachdem er angeblich plötzlich tot war und die Ärzte es zuerst gar nicht bemerkt haben wollten. Sie kabelten ihn vorsorglich noch einmal an und gaben ihm Strom, wahrscheinlich haben sie einfach angedreht und sind aus dem Zimmer hinaus und haben ihn tanzen und zappeln lassen allein vor sich hin, zumindest sah er anschließend so aus.
Davon ahnt er nichts, als er sein fünftes und sechstes und jetzt vielleicht schon siebtes Bier trinkt an seinem Arbeitsvormittag in Frankfurt am Main. Was ahnte man überhaupt damals von der Zukunft, von der sie glaubten, sie stehe unmittelbar bevor oder sie sei schon da? Eben noch Krieg und SA-Uniformen, die mit ihrer Farbe den Polohemden meines jagdfanatischen Onkels J. gar nicht unähnlich waren, auch Onkel J.s Auto hatte ja dieses Nazibraun, und nun schon mit den Griechen und den Italienern und denSpaniern gemeinsam auf einer Bank im Bahnhof sitzen und Bier trinken und rauchen in arbeitsmäßiger Kollegialität. Und sie packten ihre Brotdosen aus, mit denen auch ich noch zur Schule geschickt wurde am Anfang. Ich erinnere mich an die Brotdose meines Onkels, ich habe sie noch vor Augen und was meine Großmutter ihm jeden Abend dort hineinlegte, denn nachts um drei stand sie nicht auf, wenn er Frühschicht hatte, da mußte J. schon allein aufstehen, sich allein anziehen und allein zum Bahnhof gehen. Wurstbrote wurden hineingelegt, in eine Ecke der Brotdose, nach einem ganz bestimmten Raumaufteilungsprinzip, und in den freigebliebenen Raum kam ein Ei, eine Gurke oder eine Zwiebel, und garniert wurde es mit einer Serviette. Auch mir wurden am Anfang noch Brote in die Schule mitgegeben, es war damals wie eine Reise, wenn man in die Schule oder zur Arbeit ging, man mußte gut vorbereitet sein, man sollte mittendrin körperlich nicht abfallen, man mußte etwas zur Stärkung dabeihaben, und da man unterwegs noch nichts kaufte, nahm man stets alles mit. Kaffee in Bechern gab es nirgends, dagegen wurden überall Thermoskannen benutzt, sie fanden sich in jeder Tasche, auch mein Onkel J. hatte eine solche Thermoskanne, mit Milchkaffee darin. Ein Land der Thermoskannen. Stets ein Stück Zuhause dabei.
Mein Onkel J. trank seinen Kaffee gezuckert, ineine gewöhnliche Tasse Bohnenkaffee gab er fünf Teelöffel Zucker (ich sah dem immer fassungslos zu); wenn man das auf eine ganze Thermoskanne hochrechnet, muß er etwa fünfundzwanzig bis dreißig Teelöffel Raffinadezucker in jede Kanne geschüttet haben. Mein Onkel lebte nicht gesund, das kann man nicht sagen, allerdings war es damals auch noch nicht so in Mode, gesund zu leben, man durfte sich die eigene Todesart fast noch aussuchen, und es war meistens die eigene Lebensart. Er rauchte massenhaft, nahm Unmengen von Zucker zu sich, er trank wahrscheinlich vier bis fünf Liter Bier am Tag, dafür ging er aber auch in den Wald, liebte neben der Wirtschaftsluft die Waldluft und machte längere Spaziergänge. Daneben fuhr er auch stets gern mit seinem Auto, das er haben durfte, wie er auch seinen Führerschein haben durfte, was heute auch nicht mehr möglich wäre. Mein Onkel und sein Auto, beide untrennbar, einmal stürzte er damit in die Usa, unseren Fluß, und seine Mutter saß auf dem Beifahrersitz. Anschließend mußte das Auto aus der Usa herausgezogen werden, und J. stand dabei und schaute zu. Es war ein VW-Variant-Kombi, er roch wie mein Onkel. Jedesmal in meinem Leben wäre ich eher die drei Kilometer vom Haus in der Uhlandstraße zu meinen Eltern nach Friedberg (oder umgekehrt) gelaufen, als
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