Das Zimmer
fuhr zwischen Friedberg und Bad Nauheim morgens vor fünf überhaupt kein Automobil, und das Wort Ortsumgehungsstraße existierte offiziell überhaupt noch nicht, im Duden dieser Jahre folgte auf ortsüblich noch direkt Ortsverein . Damals, als die Kühe noch Koi hießen und wir noch Dialekt sprachen und noch von niemandem verstanden wurden. Auch die Sprache meines Onkels existiert nicht mehr. Damals sprach er sie im Zug und wurde in ihr von Bornträger veräppelt. Das ist gerade einmal vierzig Jahre her. Mein Onkel fuhr immer dieselbe Strecke. Bad Nauheim, an Schwalheim vorbei, dann über das Rosenthalviadukt, die sogenannten vierundzwanzig Hallen, an denen ich aufgewachsen bin und die für meine Kindheit in ähnlicher Weise den Hintergrund abgaben wie die berühmte Eisenbahnbrücke auf dem Plakat von Es war einmal in Amerika für die Kinder im Film. Die Steine zum Rosenthalviadukt stammten zum Teil aus unseren Steinbrüchen, sagte meine Mutter, ich kann das nicht überprüfen. Aber sie wird es schon wissen, schließlich hat sie die Firma sieben Jahre lang geleitet, von meinem Geburtsjahr an, 1967, bis zur Liquidation der Firma, 1974, als die letzten verbliebenen Arbeiter vom Gelände gingen.
Mein Onkel fuhr also regelmäßig auf seinem Weg nach Frankfurt an unserem Friedberger Firmengelände vorbei und hätte seinem Vater von dort oben fast auf den Kopf spucken können, was er aber nie getan hätte, soviel Ehrfurcht hatte er. Er hatte Sehnsucht nach dem einen und Ehrfurcht vor den anderen, das war mein Onkel. In späteren Jahren hat erdort mein Elternhaus stehen sehen, wo vorher noch unser Apfelgarten gewesen war. Ja, er hat von dort oben aus dem Zug alles sehen können: Wie die Firma immer kleiner wurde, wie immer mehr Teile von ihr abgeschnitten wurden, wie die Gegenwart Vergangenheit wurde und sich nicht die Zukunft einstellte, die alle erhofft hatten. Schließlich war es doch nur immer Niedergang gewesen. Wir hatten geblüht während der Weimarer Republik, und auch das Dritte Reich war, vom Bollschen Standpunkt aus gesehen, eine einträgliche Zeit gewesen. Obgleich die toten Soldaten ja keine Einzelsteine bekamen. Ein toter Friedberger Soldat hat uns nicht viel eingebracht. Starb seine Mutter, war das dagegen ein gutes Geschäft. All die Marie Baumanns und Sophie Breitenfelders bekamen Einzelgrabsteine. Ihre toten Soldaten aber verwahrten sie, nachdem sie sie in die Kriege geschickt hatten, genauso, wie sie, als noch Lebende und dem Tode Geweihte, auch im Krieg verwahrt worden waren, nämlich kaserniert und übereinander und nebeneinander, nur daß aus dem gemeinsamen Kasernendach später die gemeinsame Grabplatte wurde, in ewiger Kameradschaft in Friedberg in der Wetterau auf dem Friedhof bis zur gemeinsamen Auferstehung.
Wir harren der Wiederkunft
Aber dann ging alles nur noch nieder, und die Weltmarktöffnung hat schließlich den Rest besorgt, jetzt beerdigen sie hier unter Steinen aus aller Welt. Die Wetterauer liegen neuerdings unter Importsteinen. Es fing an mit den Steinen aus Fernost. Unser Friedhof war bereits globalisiert, da gab es das Wort noch gar nicht, und wir waren Friedbergs erstes Globalisierungsopfer, gerade einmal achtundzwanzig Jahre nach dem letzten Krieg. Mit dem Zug durch Friedberg fahrend, kam mein Onkel auch am Hanauer Hof vorbei, einer Bierkneipe direkt neben dem Friedhof, wo wir nun auch fast alle schon liegen. Im Hanauer Hof haben wir die Toten alle totgetrunken nach ihren Beerdigungen, meistens mit einem Schnaps und noch fünf Schoppen Apfelwein hinterher. Den Hanauer Hof hat mein Onkel freilich nicht nur zu den Beerdigungen aufgesucht. Auch nach seiner, des Onkels, Beerdigung waren wir im Hanauer Hof. Bis in die siebziger Jahre befand sich hinter dem Hanauer Hof eine große Fabrik, es roch nach Eisen und nach Strom und nach einer Frühstufe der Industrialisierung, man sah die Anlagen, es stand alles noch ungeschützt in der Landschaft bzw. in der Stadt herum, und Menschen wie mein Onkel standen bewundernd vor diesen Anlagen und schauten sich die Augen aus dem Leib in kindlicher Begeisterung. Heute befinden sich dort fünf Supermärkte, und die Friedberger stehen nicht mehr davor und schauen sich mit Bewunderung die Augen aus dem Leib, sondern irren verwirrt zwischen ihnen umher und vergleichen die Preise. Eine Senioren-Schnitzeljagd zwischen Tegut und Aldi und Norma, und daneben ein Baumarkt, der inzwischen aber auch schon wieder weg ist.
Dann kommt mein Onkel aufs Feld, nach
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