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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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verbrüdern. Weber reagierte darauf nie, nehme ich an.
    Bornträger: He, J., sag doch noch mal, du hast da letzte Woche von dieser neuen Fräsmaschine erzählt, was hat sie noch mal gekostet, diese Maschine? Was ist das denn überhaupt für eine Maschine? Wie heißt sie denn? Sag doch mal etwas über sie!
    J. hebt gewichtig die Hand, kneift die Augen zusammen und sagt: Au, die Maschine, diese Maschine ist das Beste, was es derzeit gibt ( au , das war sein Begeisterungslaut). Eine ganz neue Entwicklung, aus einem ganz berühmten Werk. Ein ganz berühmtesFabrikat, ich habe selbst schon an dieser Maschine gearbeitet.
    B.: Was hast du an dieser Maschine gemacht?
    J.: Diese Maschine kenne ich in- und auswendig. Ich kenne jeden Handgriff.
    B.: Was, hat dich dein Vater drangelassen? Das glaubst du doch selbst nicht, ha-ha-ha, du kannst doch nicht mal eine Schraube eindübeln, du Handwerksmeister du, ha-ha-ha. Du weißt ja nicht einmal, wie sie heißt, die Maschine!
    Man kann sich vorstellen, wie er Weber dabei aufmunternd auf den Schenkel schlägt, wobei dieser aber nie reagiert, sondern angestrengt zum Fenster hinausschaut. Ihm tat J. leid. Bornträger dagegen begriff möglicherweise, daß es sich bei meinem Onkel um den glücklichsten Menschen auf der Welt handelte, der gar nicht bemerkte, daß man ihn auf den Arm nahm, sondern der immer nur erwartungsvoll schaute wie ein Hündchen, dem man einen Knochen hinhält. Deshalb fragte Bornträger immer ganz boshaft detailliert nach den Dingen, die meinen Onkel begeisterten und mit denen er sich auszukennen glaubte (Maschinen etc.), von denen er aber rein gar nichts wußte. J. verstieg sich dann regelmäßig zu vollkommen inhaltsleeren Ausführungen, die immer vom Größten und Besten und Neuesten handelten, eine Art Wetterauer Geniesprache für eingebildete Ingenieure, zwar ohne jede Sachkenntnis, aberimmerhin mit einigen allgemeinen Bezeichnungen aus dem Technikbereich, die er aufgeschnappt hatte. Denn mein Onkel konnte solche Worte wie Hebekran , Fräsmaschine , Winkelschleifer ja aussprechen, diese Worte kannte er, auch wenn er nur von ihnen sprechen konnte wie ein Jüngling von den Frauen und allen ihren Einzelheiten, bevor er sie selbst kennengelernt hat. Eine Sehnsuchtssprache in Ingenieursdeutsch. Ich stelle mir die Traurigkeit und Hilflosigkeit in den schwarzbraunen Augen meines Onkels vor, wenn er sich zu immer größeren Superlativen verstieg, um Bornträger halbwegs zu befriedigen, der ihn doch nur, wie man bei uns sagt, veräppelte. Auch im Keller machte er oft einen traurigen und hilflosen Eindruck, aber dennoch bin ich immer der Überzeugung gewesen, daß ihm diese Hilflosigkeit und Traurigkeit nie bewußt waren und insofern für ihn selbst gar nicht existierten. So wie er ja vielleicht auch Schmerzen hatte und einfach nichts von ihnen wußte. Er konnte sie nicht spüren, J. war von Geburt an vollkommen schmerzunempfindlich. Was sogar in gewisser Weise hilfreich war in diesem Leben, denn als Schüler wurde J. Tag für Tag verprügelt von den Menschen, die später anständige Bad Nauheimer Bürger wurden und angesehen sind bis heute, und damals traten sie meinem Onkel noch mit der Fußspitze in die Seite, während er am Boden lag, wo er, ihrer Ansicht nach, wohl auch hingehörte. MeinOnkel fiel auf mit seinen dürren Beinen und seinen großen Ohren, seinen strähnigen Haaren und seinem irren Blick, überdies fragte er gern viel und hängte sich an jeden, also wurde er insgesamt das Schulopfer und pendelte so Tag für Tag als Kind hin und her zwischen seinem Vater, der ihn verabscheute, und seinen Mitschülern, die ihm wörtlich die Ohren langzogen und noch heute in der Bad Nauheimer Kirche herumsitzen und Weihnachten und Ostern mit ihren Familien verbringen, dabei könnten sie am Grab meines Onkels stehen und ihrem Herrgott bekennen: Ja, auch ich habe getreten.
    Ich habe nie erfahren, ob Bornträger damals nicht auch auf dieser Schule gewesen ist. Sie hatten J. nach den ersten Schuljahren weit weg von hier und auf eine besondere Schule ins Rheinland geschafft, um ihn halbwegs unversehrt am Leben zu halten. Ein Wetterauer, den sie jahrelang aus der Wetterau wegschaffen mußten, damit er durchkam und die Wetterau überleben konnte, auch wenn er sie nicht überlebt hat, wie wir sie alle nicht überleben werden. Damals saß mein Onkel im Zug und starrte hinaus in eine Landschaft, die noch seine Landschaft war. Draußen waren es seine Felder, sein Winterstein, draußen

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