Die Tänzerin im Schnee - Roman
KAPITEL 1
E s war ein derart kalter, derart unerbittlich grauer Nachmittag, dass nur wenige Fußgänger auf dem langen, von Bäumen gesäumten Grünstreifen unterwegs waren, der die Commonwealth Avenue in der Mitte teilte; und selbst die Hunde trugen wärmende Mäntelchen sowie Leichenbittermienen zur Schau, während sie ungeduldig des Weges gezerrt wurden. Von einem Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses auf der Nordseite der Avenue aus, oberhalb von reich verzierten Balkonen mit Kupfergeländern, die sich bereits vor langer Zeit mintgrün verfärbt hatten, beobachtete Nina Rewskaja das Treiben. Bald würde auch die Sonne ihre kläglichen Bemühungen einstellen und der Streifen aus gepflegtem Sandstein im nüchternen Glanz der Straßenlampen erstrahlen.
Nina versuchte, den Kopf weiter nach vorn zu schieben, um den Gehweg besser einsehen zu können, als sich ihr steifer Nacken meldete. Da sie ihren Stuhl nicht näher heranrücken konnte, ertrug sie den Schmerz und reckte abermals den Hals. Ihr Atem hinterließ Nebelflecken auf der Scheibe. Sie hoffte, ihren Besuch frühzeitig zu entdecken, um sich besser wappnen zu können.
Inzwischen stieg ihr die Kälte ins Gesicht. Da kam eine Frau, die außerdem zu jung war. Die Absätze ihrer Stiefel machten ein einsames, klackendes Geräusch. Jetzt hielt die Frau inne, als würde sie nach einer Adresse suchen. Dann lief sie auf die Haustür zu und damit aus Ninas Sichtbereich. Bestimmt wollte sie zu jemand anderem – doch da klingelte es an der Tür. Nina rückte von ihrem Posten am Fenster ab und lenkte ihren Rollstuhl langsam und mit steifem Rücken in die Diele. Stirnrunzelnd betätigte sie die Sprechanlage. »Ja?«
»Drew Brooks, von Beller.«
Diese amerikanerischen Mädchen mit ihren Jungennamen.
»Kommen Sie herauf.« Obwohl sie sich ihres Akzents und ihrer brüchigen Stimme bewusst war, erschrak Nina jedes Mal aufs Neue,wenn sie sich sprechen hörte. In ihrer Vorstellung war ihre Stimme stets hell und klar. Sie rollte weiter, um die Tür zu entriegeln und zu öffnen, und horchte auf den Fahrstuhl. Doch was sie hörte, waren Schritte auf der Treppe, die lauter wurden, näher kamen und schließlich zu »Drew« wurden, bekleidet mit einem dünnen Wollmantel, die Wangen von der Kälte gerötet, eine Ledertasche diagonal über die Schulter gehängt. Sie hatte die ideale Körpergröße, ihre Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus, und sie streckte Nina eine Hand entgegen, die noch in einem Handschuh steckte.
Es geht los, dachte Nina und verspürte einen kleinen Stich im Herzen; ich habe es losgetreten. Mit zuckenden Fingern ergriff sie kurz die ausgestreckte Hand. »Bitte treten Sie ein.«
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Ms. Rewskaja.«
Ms., als ob sie eine Sekretärin wäre. »Nennen Sie mich Nina.«
»Nina, hallo.« Das Mädchen lächelte sie überraschend selbstsicher an, wobei sich fächerförmig Falten um ihre Augen bildeten; Nina bemerkte, dass sie älter war, als sie zunächst angenommen hatte. Sie hatte dunkle Wimpern, und ihr kastanienbraunes Haar klemmte locker hinter den Ohren. »Lenore, unserer Direktorin für Schmuck, tut es sehr leid, dass sie nicht selbst kommen kann«, sagte sie und zog sich ihre Handschuhe aus. »Ihre beiden Kinder liegen krank im Bett.«
»Sie können Ihren Mantel hier ablegen.«
Das Mädchen entledigte sich ihres Mantels und gab den Blick auf einen kurzen Rock und einen eng anliegenden, hochgeschlossenen Pullover frei. Nina begutachtete den knappen Rock, die langen Beine, die halbhohen Stiefel und die helle Strumpfhose. Unvernünftig, bei diesem Wetter Bein zu zeigen. Doch Nina gefiel es. Jeder hatte wohl den Spruch »Wer schön sein will, muss leiden« schon einmal gehört, doch wirkliche Opfer brachten nur die wenigsten.
»Setzen wir uns in den Salon.« Nina wendete ihren Rollstuhl, wobei sie ein jäher Schmerz in den Kniescheiben überfiel. So kam er immer, der Schmerz, plötzlich und willkürlich. »Bitte setzen Sie sich.«
Das Mädchen nahm Platz und schlug die Beine in ihrer dünnen Strumpfhose übereinander.
Wer schön sein will, muss leiden.
Es war einer der wenigen Grundsätze, nach denen Nina voll und ganz gelebt hatte: tanzen mit verstauchtenZehen und rheumatischen Hüften, trotz Fieber und Lungenentzündung. Und natürlich war sie als junge Frau in Paris und später in London äußerst wählerisch gewesen, was ihre Garderobe anbetraf, hatte halsbrecherische Absätze und in den 1960er Jahren diese
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