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Dauerhaftes Morgenrot

Dauerhaftes Morgenrot

Titel: Dauerhaftes Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Zoderer
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wartet nicht, daß sie ihn ansieht, er setzt sich ihr gegenüber, sagt nicht einmal Ciao und hebt das Glas.
    Menschen wie dich, sagte sie, Menschen wie dich mag ich nicht, sei mir nicht böse, aber ich bin im Dienst, nicht in Ferien, ich arbeite, ich hasse, wer nur so tut, ich machs auch mit dir, aber ich sitz nicht herum, ich verlier mit dir nicht meine Zeit.
    Er schwieg und trank langsam, ohne abzusetzen sein Glas Rotwein aus, während er an Melvas seitlich sich auswölbendem Busen vorbeisah zu dem Videoflipper und dem Jungen hin, dessen Oberkörper wie abgesondert wirkte, sekundenlang erstarrt, obwohl die Hände sich immerfort zuckend bewegten, die Fingerspitzen hüpften wild herum, als rasten sie über ein Jazzpiano. Aus dem Augenwinkel bekam Lukas mit, wie Melva ihn anlinste, ihr Mund verzerrte sich zu einem lockenden Grinsen, er stellte das geleerte Glas weg und blickte ihr ohne Anstrengung ins breite Gesicht. Ich kenne fast jedes Fältchen in Livias Gesicht, als hätte ich es selbst gekerbt, aber es ist eine ganz andere Zerstörung.
    Also was ist? fragte Melva.
    Er füllte das Weinglas, das er für Melva hatte bringen lassen, und trank sowohl aus diesem als auch aus seinem Glas.
    Warum ist Remo nicht da? fragte er ohne Neugier.
    Du spinnst wohl, fauchte Melva, lauf doch zu ihm rauf, sowas wie du fehlt noch in der Basilika.
    Du schreist, als ob wir am Meer wären, genierte sich Lukas.
    Ach, das kenn ich, lachte Melva plötzlich auf und schüttete mit einer jähen Bewegung den Weinrest ihres Glases über den Tisch zu ihm her. Ach, das kenn ich, du bist ein Genießer, du möchtest am Meer liegen und den Bauch in die Sonne strecken. Sie kicherte: Also was ist?
    Draußen schlitterte eine Tragetasche über den Gehsteig, vom Wind halb aufgeblasen, er bückte sich danach zwei-, dreimal, schließlich kam ihm ein alter Mann zu Hilfe, der die Tasche mit einem Fuß energisch niedertrat und wartete, bis Lukas sich hinunterbeugte und die Plastikhaut unter dem Schuh des Pensionisten dankend hervorzupfte. Eine Weile trug er den leeren Nylonsack schlenkernd in einer Hand, als er aber sicher war, daß ihm der Alte nachschaute, überließ er das flatternde Nylon einem Windstoß, der es gegen die Auslagenscheibe eines Uhrengeschäftes trieb, von wo es wieder auf das Trottoir flappte und dort vorerst liegen blieb.
    Er kam an zwei naß gefegten leeren Verkaufshütten vorbei, wo vor Tagen noch Pullover und Baskenmützen ausgehängt waren. Ihn interessierte nichts als Körperwärme. Johanna hingegen wird sich eines Tages in Norwegen oder in Grönland oder auch in Finnland ansiedeln, einnisten, festkrallen, irgendwo jedenfalls in der Nähe der kürzeren Tage, hätte sie sagen können, nichts habe sie je so angezogen wie das Denken an die Wassertiefen unter dem Eis, hätte Johanna sagen können, das Stillehalten der Masse, oder das beständige Fluten der Farblosigkeit, die Abwesenheit der Worte schon unmittelbar unter der Eisdecke, auch unter der dünnen Eishaut einer Wasserlache, dieses ununterbrochene Wartenkönnen. Aber ich will nicht, ich will nicht, hatte er geschrien, und Livia hatte ihn wachgerüttelt. Nichts ängstigte ihn mehr als die Stille des Wassers unter dem Eis.
    Eine kalte Sonne beschien das Gemäuer alter Häuser, meistens zwei- oder höchstens dreistökkig, und das faulende Laub der Platanen in den Winkeln und Nischen. Er sah einen glatzköpfigen Mann unter ein aufgebocktes Auto kriechen und blieb stehen, bis er nur mehr die Socken und die Schuhe des Mannes herausragen sah, einige Augenblicke lang schaute er auch auf die abgewetzten Sohlen, die sich mit jeder Bewegung der unter der Chassis arbeitenden Hände hin und her drehten. Ohne Grund senkte er den Kopf und schritt mitten durch diese aufwärtssteigende Platanenallee; zwischen den Stämmen waren Blätterhaufen zusammengekehrt, die zum Teil schon wieder vom Wind gezaust und flachgeblasen waren. Wie viele Verschanzungsmöglichkeiten, Verstecknester, Burgwälle, hinter denen er als Kind gern gekauert wäre, den Feind erwartend, mit einigen Roßkastanien in den Fingern, und hier lagen die stacheligen Pelzkugeln der Platanen vor den Füßen, in dieser kinderlosen Stille. Oben, auf der Höhe der Basilika, weitete sich die Sicht über einem Platz mit Säulenstümpfen und einer Reihe von Zypressen, zwischen deren Stämmen er nur den

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