DavBen-StaderDie
tatsächlich Gewissensbisse, aber ich wusste auch, dass es besser war, dass sie fort waren. Der entscheidende Kampf stand bevor, und die beiden gehörten nicht an die Front. Am 7. Oktober nahmen die Deutschen Wjasma ein, und Mutters Briefe blieben aus.
Ich würde ja gerne sagen, dass ich die beiden vermisste, als sie fort waren, und in manchen Nächten fühlte ich mich sehr einsam, und immerzu vermisste ich das Essen meiner Mutter; aber seit ich klein war, hatte ich davon geträumt, auf mich selbst gestellt zu sein. In meinen Lieblingsmärchen ging es immer um erfinderische Waisen, die sich in einem finsteren Wald durchschlagen, alle Gefahren dank raffinierter Problemlösungen überleben, ihre Feinde überlisten und dabei unterwegs ihr Glück finden. Ich will nicht sagen, dass ich glücklich war - wir waren alle zu hungrig, um glücklich zu sein -, aber ich war überzeugt, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte. Wenn Leningrad fiel, würde Russland fallen; wenn Russland fiel, würde der Faschismus die Welt erobern. Davon waren wir alle überzeugt. Ich bin es noch heute.
Ich war zwar zu jung fürs Militär, aber alt genug, um tagsüber Panzergräben auszuheben und nachts auf den Dächern Wache zu halten. Meine Mannschaft bestand aus meinen Freunden vom fünften Stock - Vera Ossipowna, einer talentierten Cellistin, und den rothaarigen Antokolski-Zwillingen, deren einziges bekanntes Talent darin bestand, zweistimmig zu furzen. In den ersten Kriegstagen hatten wir auf dem Dach Zigaretten geraucht, uns als Soldaten aufgespielt, tapfer und stark und entschlossen, während wir den Himmel nach Feinden absuchten. Ende Dezember gab es in Leningrad keine Zigaretten mehr, zumindest keine aus Tabak. Ein paar ganz Verzweifelte zerkrümelten abgefallene Blätter, rollten sie in Papier und nannten die Dinger »Herbstlichter«, behaupteten sogar, mit den richtigen Blättern ließe sich ein anständiger Glimmstängel herstellen, aber wir im Kirow, weit weg vom nächsten noch stehenden Baum, hatten diese Alternative nicht. Wir verbrachten unsere freien Minuten damit, Jagd auf Ratten zu machen, für die das Verschwinden der Katzen der Stadt die Er hörung all ihrer Gebete seit Ur z eiten gewesen sein muss, bis sie merkten, dass sich nichts Essbares mehr im Abfall befand.
Nach monatelangen Bombenangriffen konnten wir die verschiedenen deutschen Flugzeuge an ihren Motorengeräuschen erkennen. In dieser Nacht, wie schon seit Wochen, waren es Junkers 88, die nun die Heinkels und Dorniers ersetzten, die unsere Jäger abzuschießen gelernt hatten. So trostlos unsere Stadt bei Tageslicht geworden war, nach Einbruch der Dunkelheit hatte die Belagerung eine seltsame Schönheit. Vom Dach des Kirow konnten wir, wenn der Mond schien, ganz Leningrad sehen: die Turmspitze der Admiralität (grau angestrichen, damit die Bomber sie nicht sahen), die Peter-Paul-Festung (die Kirchtürme mit Tarnnetzen verhängt), die Kuppeln der Isaaks-Kathedrale und der Erlöserkirche auf dem Blut. Wir konnten die Besatzungen sehen, die die Flugabwehrkanonen auf den Dächern der benachbarten Gebäude bemannten. Die Baltische Flotte war auf der Newa vor Anker gegangen, wo ihre Schiffe, riesigen grauen Wachposten gleich, ihre schweren Geschütze auf die Stellungen der Nazi-Artillerie abfeuerten.
Am schönsten waren die Luftkämpfe. Die Ju 88 und die Suchois kreisten über der Stadt, waren von unten nur dann zu sehen, wenn sie von den starken Suchscheinwerfern erfasst wurden. Die Suchois hatten einen großen roten Stern auf der Unterseite ihrer Tragflächen, um nicht von der eigenen Flugabwehr abgeschossen zu werden. Alle paar Nächte sahen wir ein solches Gefecht, angestrahlt wie auf einer Bühne, bei dem die schwereren, langsameren deutschen Bomber scharfe Kurven flogen, damit ihre Bordschützen die schnellen russischen Jäger ins Visier nehmen konnten. Wenn eine Junkers abstürzte und das brennende Flugzeuggerippe wie ein gefallener Engel vom Himmel fiel, erhob sich auf den Dächern der Stadt lautes Freudengeschrei, und alle Kanoniere und Feuerlöschtrupps jubelten dem siegreichen Piloten mit erhobener Faust zu.
Wir hatten ein kleines Radio bei uns auf dem Dach. Am Silvesterabend lauschten wir dem Glockenspiel des Spasski-Turmes in Moskau, das die »Internationale« spielte. Vera hatte irgendwo eine halbe Zwiebel aufgetrieben; sie schnitt sie auf einem mit Sonnenblumenöl bestrichenen Teller in vier Teile. Als die Zwiebel verspeist war, tunkten wir das restliche
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