David und Goliath
schwere Rüstung anzulegen und ihm sein Schwert in die Hand zu drücken, geht er von derselben Annahme aus. Er erwartet, dass David gegen Goliath kämpft wie Titus Manlius gegen seinen gallischen Herausforderer.
David denkt jedoch gar nicht daran, sich dem Ritual des Zweikampfs zu unterwerfen. Als er Saul davon erzählt, wie er als Hirte Bären und Löwen tötet, geht es ihm nicht nur darum, seinen Mut zu belegen. Er will Saul klar machen, dass er Goliath mit denselben Mitteln bekämpfen will wie die wilden Tiere: aus der Ferne und mit Geschossen.
Er rennt auf Goliath zu, denn ohne Panzer ist er schnell und wendig. Er legt einen Stein in seine Schleuder, wirbelt sie herum, bis sie sechs oder sieben Umdrehungen pro Sekunde erreicht, und zielt auf Goliaths Stirn – die verwundbarste Stelle des Riesen. Eitan Hirsch, Ballistikexperte der Israelischen Streitkräfte, berechnete unlängst, dass ein normal großer Stein, der aus einer Entfernung von 35 Metern geschleudert wurde, mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern auf Goliaths Stirn aufgetroffen sein muss – genug, um ihn zu töten oder ihm zumindest das Bewusstsein zu rauben. Die Wucht des Aufpralls entspricht in etwa der einer Kugel, die aus einer modernen Handfeuerwaffe abgefeuert wird. »Der Stein legte die Entfernung in weniger als einer Sekunde zurück«, 5 schreibt Hirsch. »In dieser Zeitkonnte sich Goliath unmöglich schützen, und vom Fleck bewegen konnte er sich ohnehin nicht.«
Was sollte Goliath denn tun? Er trägt einen mehr als 50 Kilogramm schweren Panzer und hat sich auf einen Nahkampf eingestellt, bei dem er unbeweglich stehen bleiben, Schläge mit seiner Rüstung abwehren und mit seinem Spieß zustoßen kann. Als David auf ihn zuläuft, verspürt er vermutlich erst Verachtung und dann Verwunderung, ehe ihm ein Schrecken durch alle Glieder fährt und ihm klar wird, dass dieser Kampf einen unerwarteten Verlauf nehmen wird.
»Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heere, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast«, verkündet David. »Heute wird dich der Herr mir ausliefern. Ich werde dich erschlagen und dir den Kopf abhauen. Auch alle, die hier versammelt sind, sollen erkennen, dass der Herr nicht durch Schwert und Speer Rettung verschafft; denn es ist ein Krieg des Herrn und er wird euch in unsere Gewalt geben.«
Zweimal erwähnt David das Schwert und den Speer Goliaths, als wolle er besonders betonen, dass er eine ganz andere Strategie verfolgt. Dann holt er einen Stein aus der Tasche, und in diesem Moment hält vermutlich keiner der Zuschauer zu beiden Seiten des Tals seinen Sieg für unwahrscheinlich. David ist ein Schleuderer, und Artillerie schlägt Infanterie.
»Mit seinem Schwert hatte Goliath ungefähr genauso gute Chancen gegen David wie gegen einen Gegner mit einer automatischen Pistole«, schreibt der Historiker Robert Dohrenwend. 6
4
Warum werden die Ereignisses dieses Tages im Elah-Tal bis heute so gründlich missverstanden? Zum einen zeigt der Zweikampf, dass wir völlig falsche Vorstellungen davon haben, was Macht bedeutet. König Saul hält David für chancenlos, weil David klein ist und Goliath groß.Für Saul ist Macht eine Frage der physischen Stärke. Er sieht nicht, dass Macht auch andere Formen annehmen kann, oder dass David gegen die Spielregeln verstoßen und Stärke durch Schnelligkeit oder ein Überraschungsmoment wettmachen könnte. Doch Saul ist nicht der einzige, der diesen Fehler macht. Auf den folgenden Seiten werden wir sehen, dass wir diesem Fehler bis heute erliegen, und dass dies Auswirkungen auf den verschiedensten Gebieten hat, angefangen von der Kindererziehung bis zur Verbrechensbekämpfung.
Daneben begehen wir jedoch einen zweiten Fehler. Saul und die Israeliten meinen zu wissen, wer Goliath ist. Sie sehen seine schiere physische Größe und schließen daraus auf seine Fähigkeiten. Aber in Wirklichkeit nehmen sie ihn gar nicht wahr. Bei genauerem Hinsehen verhält sich Goliath sonderbar. Er gilt als unbezwingbarer Krieger, doch irgendetwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Als er ins Tal kommt, trägt ein Diener seinen Schild vor ihm her. Im Altertum begleiteten die Schildknappen in der Regel nur die Bogenschützen in die Schlacht, denn während diese ihre Pfeile abschossen, hatten sie keine Hand frei, um ihren Schild selbst zu halten. Warum braucht Goliath, der einen Schwertkampf fordert, einen Diener,
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