David und Goliath
ganzen Rest des Spielfelds dem Gegner. Hin und wieder wagte sie sich weiter vor, um den Gegner am Spielaufbau zu hindern, doch diese sogenannte Pressing-Phase war meist nach wenigen Minuten schon wieder vorüber. In der Welt des Basketball schien es eine unausgesprochene Abmachung zu geben, wie das Spiel zu spielen sei, doch diese Abmachung war nach Ansicht von Ranadivé daran schuld, dass der Abstand zwischen guten und schlechten Mannschaften immer größer wurde. Gute Mannschaften hatten große Spieler, die gut dribbeln und werfen und die sorgfältig aufgebauten Spielzüge in der gegnerischen Hälfte mit einem erfolgreichen Korbwurf abschließen konnten. Aber warum gaben ihnen die schlechteren Mannschaften den Platz, ihre Fähigkeiten auszuspielen?
Ranadivé sah sich die Mädchen in seinem Team an. Morgan und Julia waren gute Spielerinnen. Aber Nicky, Angela, Dani, Holly, Annika und seine Tochter Anjali hatten nie zuvor Basketball gespielt. Sie waren klein. Sie konnten nicht werfen. Sie waren keine Dribbelkünstlerinnen. Sie standen nicht jeden Abend auf dem Schulhof herum und warfen auf Körbe. Die meisten waren, wie Ranadivé sagt, »kleine blonde Mädchen« aus Menlo Park und Redwood City, dem Herzen von Silicon Valley. Sie waren die Töchter von Stubenhockern und Programmierern. Sie arbeiteten an naturwissenschaftlichen Unterrichtsprojekten, lasen dicke und komplizierte Bücher und träumten davon, später einmal Meeresbiologinnen zu werden. Ranadivé war klar, wenn diese Mädchen auf konventionelle Art und Weise spielen würden und widerstandslos zusahen, wie ihre Gegnerinnen unter ihren Korb dribbelten, dann hatten sie nicht die geringste Chance gegen Mädchen, für die Basketball eine echte Leidenschaft war. Ranadivé war im Alter von 17 Jahren und mit 50 Dollar in der Tasche in die Vereinigten Staaten gekommen. Er war ein Mann, der nicht gern verlor. Sein zweiter Vorsatz war daher, dass seine Mannschaft in jedem Spiel und über die gesamte Spielzeit hinweg Pressing spielen würde. Sein Team wurde so erfolgreich, dass sie sich für die Endrunde der Landesmeisterschaften qualifizierte. »Es war irgendwie total schräg«, sagt seine Tochter Anjali Ranadivé. »Mein Vater hatte noch nie im Leben Basketball gespielt.«
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Stellen Sie sich vor, wir addieren alle Kriege, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten zwischen sehr großen und sehr kleinen Ländern geführt wurden. Nehmen wir an, dass eine Seite mindestens zehnmal so viele Einwohner und Waffen haben muss wie die andere. Was meinen Sie: Wie oft gewinnt die zahlenmäßig überlegene Seite? Die meisten von uns würden vermutlich auf fast 100 Prozent tippen. Die tatsächliche Zahl wird Sie vielleicht überraschen: Als der Politikwissenschaftler Ivan Arreguín-Toft nachrechnete, stellte er fest, dass es nur 71,5 Prozent waren. 9 In knapp einem Drittel der Fälle behält das schwächere Land die Oberhand.
Arreguín-Toft stellte die Frage ein wenig anders. Was passiert in Kriegen zwischen starken und schwachen Ländern, in denen sich die schwache Seite auf Davids Strategie beruft und sich weigert, den Krieg nach den Regeln der stärkeren Seite zu kämpfen, sondern mit einer unkonventionellen Guerrillataktik? In diesem Fall steigt der Anteil von einem auf fast zwei Drittel. Oder um es konkreter zu machen: Die Vereinigten Staaten sind zehnmal so groß wie Kanada. Wenn die Vereinigten Staaten und Kanada Krieg führen würden und Kanada sich für eine unkonventionellen Strategie entscheiden würde, dann sollten Sie auf Kanada wetten.
Der Sieg eines Underdogs erscheint uns ausgesprochen unwahrscheinlich. Genau deshalb hat die Geschichte von David und Goliath die Menschen über Jahrtausende hinweg bewegt. Doch der Politikwissenschaftler Ivan Arreguín-Toft betont, dass Underdogs immer wieder als Sieger vom Feld gehen. Warum sind wir dann jedesmal so erstaunt, wenn ein David einen Goliath besiegt? Warum nehmen wir automatisch an, dass kleinere, ärmere oder weniger gebildete Menschen automatisch im Nachteil sind?
Einer der siegreichen Underdogs, mit denen sich Arreguín-Loft beschäftigte, war Thomas Edward Lawrence, besser bekannte unter dem Namen »Lawrence von Arabien«. T. E. Lawrence war einer der Anführer der arabischen Revolte gegen die Armee des Osmanischen Reichs, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs die arabische Halbinsel besetzte.Die Briten unterstützten den arabischen Aufstand, und der erste Brennpunkt war die Stadt Medina, Endstation
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