David und Goliath
weniger Verbrechen begehen. Das mag zutreffen, wenn die Strafen wirklich niedrig sind. Eine der am besten dokumentierten Fallstudien zu dieser Frage ist der 17-stündige Streik der Polizei von Montreal im Herbst 1969. Montreal war und ist eine der sichersten Städte des Kontinents und liegt in einem Land, das als eines der gesetzestreuesten und stabilsten der Welt gilt. Was passierte? Es brach Chaos aus. Am helllichten Tag wurden so viele Banken überfallen, dass schließlich fast alle Geldinstitute der Stadt schlossen. Plünderer fielen über die Innenstadt her und warfen Schaufensterscheiben ein. Ein alter Konkurrenzkampf zwischen den städtischen Taxifahrern und dem Fahrdienst Murray Hill um die Kunden am Flughafen artete in Handgreiflichkeiten aus, die an die Revierstreitigkeiten von Gangstern erinnerten. Die Taxifahrer stürmten Murray Hill mit Molotowcocktails, woraufhin der Sicherheitsdienst von Murray Hill das Feuer eröffnete. Also zündeten die Taxifahrer einen Bus an und ließen ihn durch dasgeschlossene Tor in das Fahrzeugdepot von Murray Hill krachen. Wir reden hier über Kanada. Doch sobald die Polizei die Arbeit wieder aufnahm, war die Ordnung wiederhergestellt. Die Strafandrohung wirkte anscheinend.
Es ist also offenbar durchaus ein Unterschied, ob man für eine kriminelle Handlung gewisse Strafen zu erwarten hat oder nicht. Solange wir uns auf der linken Seite der umgekehrten Parabel befinden, sind Interventionen durchaus sinnvoll. Doch ab einem gewissen Punkt verlieren die Maßnahmen ihre Wirkung, und genau das passiert nach Ansicht von Kriminologen im Fall der Bestrafung. Vor einigen Jahren führten die Kriminologen Richard Wright und Scott Decker Befragungen unter 86 Häftlingen durch, die wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt worden waren. 145 Dabei erhielten sie vor allem Antworten wie diese:
» Ich habe mich bemüht, nicht daran zu denken, dass ich erwischt werden könnte. Das lenkt einen zu sehr ab. Man kann sich doch auf nichts mehr konzentrieren, wenn man dauernd denkt: ›Was passiert, wenn’s schiefgeht?‹ Ich hatte mich entschieden, einen Überfall zu machen, und dann habe ich mich nur noch darauf konzentriert. «
Oder wie diese:
» Deswegen nehmen wir Drogen. Du nimmst Drogen und wirst dumm im Kopf. Dann stolperst du nicht über die Angst, dass du geschnappt werden könntest. Es kommt, wie es kommt ... Das ist dir in dem Moment egal. «
Selbst auf Nachfrage von Decker und White zeigten die Kriminellen »kein Interesse an den angedrohten Strafen«. So weit blickten sie einfach nicht in die Zukunft. Nach dem Mord an seiner Tochter wollte Reynolds, dass alle potenziellen Kriminellen in Kalifornien vor Furcht erzitterten und genau drüber nachdenken, ehe sie ein Verbrechen begingen. Aber wenn Mörder so ticken, greift diese Strategie nicht. JoeDavis und Douglas Walker, die Kimber vor dem Daily Planet überfielen, waren drogensüchtig. Einige Stunden zuvor hatten sie versucht, am helllichten Tag ein Auto zu überfallen. Und erinnern Sie sich an das, was Walker während seiner Vernehmung sagte? Ich habe echt nicht viel gedacht. Es kommt, wie es kommt. Es ist einfach plötzlich passiert. Wir waren halt unterwegs. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Glauben Sie im Ernst, dass so jemand über irgendetwas genau nachdenkt? »Ich habe mit Freunden der Familie gesprochen, die Joe und seinen Bruder gekannt haben, und sie haben ihn gefragt, warum er Kimber erschossen hat«, berichtet Mike Reynolds. »Er hat gesagt, dass er die Handtasche schon hatte, das war also nicht das Thema. Er hat sie erschossen, weil sie ihn komisch angeschaut hat. Er hat sie erschossen, weil er gedacht hat, dass sie ihn nicht ernst nimmt.« Doch damit widerspricht Reynolds der Logik von Three Strikes. Joe Davis erschoss Kimber Reynolds, weil sie ihm nicht den Respekt entgegenbrachte, den er erwartete, während er ihr die Pistole an die Schläfe drückte und ihre Handtasche in der Hand hielt. Wie um Himmels Willen soll die Androhung einer längeren Haftstrafe jemanden abschrecken, der so tickt? Ab einem gewissen Punkt spielt es einfach keine Rolle mehr, wie hoch die Strafe ist. Vielleicht haben Sie und ich Angst vor einer längeren Haftstrafe, weil wir etwas zu verlieren haben. Aber Kriminelle haben nichts zu verlieren. Wie der Kriminologe David Kennedy schreibt:
» Es kann durchaus sein, dass diejenigen, die heute bereit sind – sei es im Affekt, sei es aus einer problematischen Situation heraus –, angesichts
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