Davina
Sasonow eine schöne oder begehrenswerte Frau zuführte, würde er sofort vermuten, daß sie ihn verführen wolle, er würde es sich gefallen lassen und ihr kein Wort sagen. Aber Davina Graham litt nicht unter dem Nachteil, schön und begehrenswert zu sein. Wenn er schließlich mit ihr schlafen wollte, dann deshalb, weil er eine echte Zuneigung zu ihr empfand, und das Gefühl, nicht der Sex, war der Schlüssel, der die Türen zum Geheimnis öffnete. Der Brigadier konnte sich vorstellen, daß sich zwischen der cleveren, intelligenten Frau und dem Oberst Iwan Sasonow vom sowjetischen Geheimdienst eine seltsam spannungsvolle Situation entwickeln würde. Sie und Spencer-Barr waren mit Dank verabschiedet worden, und am nächsten Vormittag erhielt sie den Auftrag. Der Rat, den der Brigadier ihr gab, lautete schlicht: »Kommen Sie ihm näher, Miß Graham. Mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber vergessen Sie nicht: Sie dürfen sich innerlich niemals mit ihm einlassen. Ich wünsche keine zu enge Beziehung außer einer rein geistigen. Falls es aber doch dazu kommen sollte, was ich persönlich für unwahrscheinlich halte, weiß ich, daß Sie die Situation erfolgreich meistern können. Viel Glück.«
»Vielen Dank«, hatte Davina gesagt und ihm die Hand geschüttelt. Sie war sich nicht sicher, ob er nur gesagt hatte, er halte ein sexuelles Verhältnis für unwahrscheinlich, um sie zu beruhigen oder um sie anzustacheln. Das Wort, das sie am meisten getroffen hatte, war ›erfolgreich‹. Er hielt sie offenbar für ebenso kalt, wie er selber es war. Aber das lag jetzt fast fünf Monate zurück, und die eintönigen, kalten Wintermonate, die sie in dem Haus in Sussex verbracht hatte, waren so quälend langsam weitergegangen wie ein Krüppel, der mühsam eine Treppe hinaufsteigt.
Es war jetzt April und ungewöhnlich warm und mild für den Frühlingsanfang in England. Die Osterglocken blühten und wiegten ihre gelben Kronen trotz eines späten Nachtfrostes. Auf dem flachen Land zeigte sich überall frisches Grün, und die Blumenknospen schienen es nicht erwarten zu können, aufzublühen. Sie hatte die Autobahn hinter sich gelassen und näherte sich der Stelle, wo sie nach Haywards Heath abbiegen mußte. Das Haus war noch knapp zwanzig Minuten entfernt. Sie blickte auf die Uhr und sah, daß es schon zehn Minuten vor acht war. Sie hatte die Essenszeiten geändert und jede Mahlzeit um eine halbe Stunde verschoben. Das Dinner hatte sie von sieben Uhr dreißig auf acht Uhr verlegt. Das gab ihr ein wenig mehr Zeit für sich selbst nach den langen Spaziergängen am Nachmittag und der Teestunde, die Sasonow – mit Samowar und kleinen russischen Weizenplätzchen – besonders schätzte. Sie zog sich abends immer um, und wenn es nur ein langer Schottenrock mit Pullover oder eine lange dunkle Hose war. Das war ihr seit langem zur Gewohnheit geworden, und er stellte sich bereitwillig darauf ein. Sie nahmen vor dem Dinner einen Drink, und sie achtete darauf, daß die Weine gut und das Essen ausgezeichnet waren. Nach dem Dinner spielten sie dann Backgammon, da er im Schach viel zu gut war, um Freude an einer Partie mit einer schwachen Spielerin zu haben, oder sie saßen vor dem Fernseher. Und sie redeten miteinander. Millionen Worte im Lauf der letzten vier Monate und zwei Wochen – alle aufgezeichnet und zur Auswertung weggeschickt. Experten analysierten ihre Gespräche wie Goldgräber, die ihre Pfannen nach kleinen Körnchen untersuchen.
Sie sah die rote Ziegelmauer an der linken Straßenseite und hielt vor dem Tor. Auf einem Schild stand ›Sanatorium Halldale Manor‹. Es gab einen Pförtner, und als sie hupte, kam er heraus und öffnete das Tor. Sie rief: »Guten Abend«, und fuhr weiter. Halldale Manor war ein geräumiges, spätviktorianisches Landhaus, dessen Hässlichkeit nur durch großartige Gartenanlagen gemildert wurde. Es war während des Krieges vom Kriegsministerium beschlagnahmt und als Hauptquartier für die Einsatzstelle Süd verwendet worden. Damals wurden Agenten vor ihrem Einsatz in Frankreich hier untergebracht. Später hatte das Innenministerium das Haus mit seinem zehn Hektar großen Grund gekauft. Es wurde als Rehabilitationszentrum für Männer benutzt, deren Nerven im aktiven Einsatz schweren Schaden gelitten hatten, sowie für Gehirngeschädigte. Als man es Ende der sechziger Jahre zur Pflegeanstalt für Senioren umwandelte, gehörte es noch dem Innenministerium. In dem Flügel, in dem jetzt Iwan
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