Davina
Wochen die Fiktion aufrecht, daß überall nach ihm gesucht würde. Die britische Erklärung, er müsse sich umgebracht haben und sein Leichnam würde früher oder später mit Sicherheit gefunden werden, ersparte seiner eigenen Regierung das peinliche Eingeständnis, eine ihrer Führungskräfte eingebüßt zu haben.
Inzwischen hatte Sasonow dem britischen Dienst im Austausch für das Asylrecht, das er noch in Moskau vorbereitet hatte, Einzelheiten über sowjetische Agentennetze in den Niederlanden übergeben sowie eine Liste von Sympathisanten in der NATO, von denen einige bereits unter Beobachtung standen. Während der drei Monate hatte er seinen männlichen Befragern nur das gesagt, was er preiszugeben bereit war. Der Brigadier war überzeugt, daß Sasonow um jedes Wort feilschte und daß man ins eigentliche Geschäft noch gar nicht eingetreten war. So hatte Davina Graham, die nicht gut Schach spielte, die letzten fünf Monate damit verbracht, ihm Informationsbrocken zu entlocken, die man zusammensetzen konnte. Das Bild, das sich bei den Experten daraus ergab, lieferte viel wesentlichere Hinweise, als er in diesem Stadium zu enthüllen beabsichtigte.
Sie tranken den Kaffee bei Tisch. Er bat um Brandy. Sie hatte inzwischen einen solchen Grad der Vertraulichkeit mit ihm erreicht, daß sie sagen konnte: »Trinken Sie nicht so viel. Wir wollen uns heute abend ernsthaft unterhalten.«
»Schon wieder? Worum geht es denn diesmal – wie es mir gelang, einen Agenten in den holländischen Sicherheitsdienst einzuschleusen? Darüber haben wir gestern gesprochen, Vina. Ich habe es satt, immer wieder dasselbe zu erzählen. Immer und immer wieder.«
»Und ich habe es satt, mir immer wieder dasselbe anzuhören«, sagte sie. »Daran haben Sie wohl noch nicht gedacht. Lassen Sie uns den Beruf auf morgen verschieben, was meinen Sie?«
Er blickte in den Brandy und hob das Glas gegen das Licht.
»Alles, was Sie mir sagen, hat mit dem Geschäft zu tun. Alles ist Geschäft. Auch wenn wir so tun, als unterhielten wir uns nur. Wir spielen ein Spiel … Heute abend bin ich müde. Ich will das hier noch austrinken und dann schlafen.« Er sah sie herausfordernd an. »Nicht reden.«
»Auch nicht über Ihre Familie?« fragte sie ruhig. »Über Ihre Tochter und den Kanarienvogel – und Ihre Frau, Fedja? Sie waren heute den ganzen Tag allein, es war niemand da, der mit Ihnen gespielt hätte, wie Sie es nennen, und Sie haben die ganze Zeit an sie gedacht und sich Sorgen gemacht. War es nicht so?«
»Ich bitte jetzt seit Wochen um Nachrichten«, sagte er ärgerlich. »Nichts, nichts seit Neujahr – nur ein Foto, das auf der Straße aufgenommen wurde, als Beweis dafür, daß sie nicht verhaftet worden sind. Und Sie sitzen hier, ganz ruhig und ganz englisch, und halten mich hin ›mit Nachrichten, die ich eines Tages bekommen werde‹ – und dann wieder – ›tut mir furchtbar leid‹ – nichts. Tauschobjekte – das sind sie doch, meine Frau und mein Kind! Ich werde mir noch einen Agentennamen einfallen lassen, den ich Ihnen geben kann, zwei oder drei Namen, dann zeigen Sie mir vielleicht wieder ein Foto, stimmt's?«
»Das stimmt«, sagte Davina. »Ihre Familie steht Tag und Nacht unter Bewachung. Nur ein einziger Kontakt nach draußen, und man nimmt sie fest. Das wissen Sie, Iwan. Sie wissen, wie die Innere Sicherheit arbeitet. Sie observiert Dissidenten und Juden genauso, wie Ihre Familie jetzt beobachtet wird. –«
Die Befragungen waren kein Honigschlecken. Sie hatte ihn schon vorher, und sogar mit gewissem Erfolg, in die Zange genommen. Jetzt fluchte er auf russisch. Sie mußte plötzlich an Jeremy Spencer-Barr denken, der seine Worte verstanden hätte.
»Schön«, sagte sie, »Ihre Familie fehlt Ihnen. Aber damit mußten Sie rechnen, als Sie herüberkamen. Sie haben mir gesagt, Sie seien enttäuscht gewesen, hätten den Glauben an das sowjetische System verloren und keinen Sinn mehr in Ihrer Arbeit gesehen …« Sie hielt inne und fuhr dann ruhiger fort: »Haben Sie das alles vergessen? Haben Sie Jacob Belezky vergessen?«
»Nein«, entgegnete er. »Deshalb bin ich ja hier – wegen Jacob.«
»Und Scherensky und Bokow und Jemetowa.«
»Ja!« schrie er sie an. »Ja, ihretwegen und wegen allem, was wir ihnen angetan haben. Glauben Sie etwa, Sie im Westen hätten ein Gewissensmonopol? Glauben Sie, Russen wären keiner Zivilcourage und keiner Gerechtigkeitsliebe fähig?«
Davina sah ihn an. »Sie haben den
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