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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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kommen an: Wo ist sie? Was, schon weg? Sie ist echt schon weggefahren? Allein? Wohin? Zum Patriarchen? He du, wo ist Katja? Sie ist vor mir in die Metro geflüchtet. Wohin? Ich falte mit großer Geste den Stadtplan von Moskau auseinander.
    Die linke Moskwaschleife ähnelt einem erstaunten Penis beim Koitus interruptus, die rechte dem Profil des glatzköpfigen triumphierenden Bürgermeisters mit seiner Kartoffelnase. Alle Straßen sind umbenannt, man kommt nirgends durch. Also nichts wie ab in die Metro! Moskau ist ein riesiges Arsenal und Lebensmittellager. Für die Truppen Napoleons war der Aufenthalt in Moskau tödlich. Warum beschränkt sich die Kampagne für Toiletten ausschließlich auf das Thema Wasserlassen? Die Kanalisation lügt nicht. Der Ukas des Zaren von 1714, dementsprechend außer in St. Petersburg nirgendwo Steinbauten errichtet werden dürfen, hat die Bautätigkeit in Moskau praktisch für immer blockiert.
    Die lange Tanja liest in der Metro die »Philosophie im Boudoir«. Sie hat einen neuen Freund: James Joyce.
    Ich bin mit Stalin groß geworden. Zu Ehren der 800-Jahr-Feier Moskaus wurde ich in einer Kommunalwohnung auf der Moshaiskoje-Chaussee geboren. Meine Geburt wurde mit verschiedenen Wunderdingen gefeiert. In einer Nacht wuchsen ohne jedes menschliche Zutun sieben schöne Hochhäuser aus der Erde: die Universität auf den Leninbergen, das Hotel »Ukraina«, das Außenministerium am Smolensker Platz und noch ein paar andere. Parteiführung und Regierung hielten es für zweckmäßig, im Lande eine Währungsreform durchzuführen, und schenkten mir bei einem Besuch auf der Moshaiskoje-Chaussee viel neues Geld mit dem eigenen Konterfei drauf. Die Geschichte kennt keine Auszeit, Katja. Ich verlor meine Unschuld mit anderthalb Jahren. Moskau liebt den verlangsamten Flug keuscher Knaben nicht. An der Station »Majakowskaja« warf ich immer wieder Fünfkopekenstücke ein, um in die Metroumlaufbahn einzutreten. Ich weiß, wovon ich spreche. Lena, meine dreijährige Cousine zweiten Grades, beraubte mich beim Spielen unter dem Sofa meiner Unschuld. Wir waren damals gerade in die Gorkistraße unters Sofa umgezogen.
    Ich konnte lange nicht sprechen. Ich konnte nicht einmal »Mama« sagen. Durch die Blagoweschtschenski-Gasse, vorbei an dem Kommissionswarengeschäft mit den kleinen Fenstern, marschierten Milizionäre geschlossen in die Banja. Ich schrie zornig: Warum so viele Milizionäre? Breshnews künftiger Referent fand, das sei der Anfang meiner Dissidentenkarriere gewesen.
    Kolja, unser Chauffeur, machte unserer Hausangestellten Marussja einen Heiratsantrag. Sie, die Zahnlose, hielt mir die Augen zu. Wir fuhren an einem Verkehrsunfall vorbei. Es stellte sich jedoch heraus, dass er verheiratet war. Wir erschossen ihn wiederholt an der Kremlmauer. Das tut mir nicht Leid. Es entsprach den damaligen Sitten und Gebräuchen einer naiv grausamen Zeit. Marussja brach immer Stückchen vom Brot ab und aß. Lass das sein, sagte Kolja dann zu ihr.
    In liebevollen Ehren wurde er dort auch begraben. Moskau ist das wichtigste Wissenschaftszentrum der UdSSR. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft reduzierte sich ungeachtet des allgemeinen Wachstums der Anteil der Textilindustrie. Die Matrjoschka ist eine japanische Erfindung.
    Mein Papa ist General und Lumpensammler. Er hat einen Uniformmantel von mausgrauer Farbe. Die Straßenjungen rennen ihm nach, hänseln ihn und rufen ihn einen Deutschen.
    Immer wieder erschien mir die Schule Nr. 122 nicht weit vom Puschkinplatz, in der Palaschewski-Gasse, wo in alten Zeiten die Scharfrichter wohnten und sich ein Friedhof befand. Auf dem Hof meiner Schule gab es jede Menge menschlicher Knochen und Schädel. Mit den Schädeln spielten wir Fußball und mit den Knochen prügelten wir uns. Auf die Frage, wie spät ist es, antwortete meine Großmutter immer: Ich weiß nicht.
    Die lange Tanja und ich eilten in die Soljanka. Du hast gesagt, dass die Ausstellung in der Soljanka sein wird. Wir liefen durch die Soljanka und riefen: Katja, Katja! Wer nahm den Hörer ab? Wer krächzte verkatert, du würdest nirgendwohin fahren? Dann tauchtest du auf, verheult: Meine Geliebte ist tot! Mit perlmutternen Händen. Du lachst, hustest. Du sagst: Hallo. So lernte ich dich also kennen. Und deinen Lover, den Bassgitarristen.
    Die Halbstarken meiner Kindheit fingen mich immer in der Trjochprudny-Gasse ab und sagten: »Hüpf!« Wenn ich nicht hüpfte, schlugen sie mich. Wenn ich hüpfte und in meinen

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