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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ins Kissen zurückfallen.
    »Knien Sie vor mir nieder und bekennen Sie, dass Sie den Namen meiner Großmutter vom chinesischen Geheimdienst haben.«
    Sergej kniete beleidigt nieder. Bei diesem reumütigen Geschäftsmann hatte die Wand zwischen Tagträumen und Wirklichkeit Löcher. Immer wenn er schwach wurde, begann er erfolgreich zu träumen.
    »Hören Sie, wie war noch Ihr Name?«, fragte ich Kelsang. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Momo nenne?«
    Unter der Decke brach mir der kalte Schweiß aus. Allen war es heiß, nur mir war kalt. Ich betastete mich und fragte:
    »Warum bin ich nackt? Wer hat mir die Kleider ausgezogen?«
    »Anastassija Nikandrowna!«, wandte sich Sergej an meine selige Großmutter. »Wie sieht's eigentlich bei Ihnen mit Bargeld aus?«
    »Halt!«, rief ich. »Reden Sie nicht immer dazwischen!«
    In Tibet gibt es keinen Individualtourismus. Großmutter, gut frisiert, lief wie ein junges Mädchen zum Fenster, schob die Vorhänge zur Seite und sah interessiert hinaus, als erwarte sie Gäste. Unsere Gruppe bestand aus zwei jungen Schweden, die einander so ähnlich sahen wie weißblonde eineiige Zwillinge, einem liberalen Lehrer aus Kanada, der sich sonntags mit Zeichnen beschäftigte, dem russischen reumütigen Geschäftsmann und mir. Momo empfing uns am Flughafen in einer knallroten Jacke mit Webpelzkragen und schwarzer Jeans westlichen Ursprungs. Aus scheelen schwarzen Pupillen blickte sie mir schamlos in die Augen. Sofort lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
    »Ich heiße Kelsang Lamo«, stellte sich Momo vor. »Das tibetische Volk stammt zur Hälfte vom Affen ab.«
    »Das sind alles billige Legendenbildungen«, wandte ich ein und zündete mir eine Zigarette an. »Das tibetische Volk ist aus dem Beischlaf irdischer mit himmlischen Mächten entstanden. Warum haben Sie auf dem Flughafen nicht Russisch mit mir gesprochen? Wer hat mich nackt ausgezogen?«
    »Ich spreche kein Russisch«, sagte Momo. »Sie haben sich verhört.«
    »Okay«, sagte ich. »Bringen Sie mir bitte, falls es Ihnen keine Mühe macht, aus dem Badezimmer das Rasiermesser aus meinem Reisenecessaire.«
    »Gut, gut, aber versprechen Sie mir aufzustehen, während ich Ihr Rasiermesser hole, und sich zum Ausgang zu begeben. Die Schweden warten bereits sehnsüchtig auf uns!«
    Ich warf die Decke zur Seite und entblößte mein kleines Pistölchen.
    »Es ist mir unangenehm, Sie daran erinnern zu müssen«, sagte der reumütige Geschäftsmann, noch immer kniend, »aber zunächst müssen Sie sich von Ihrer Frau scheiden lassen. Das ist die erste Bedingung. Ihnen steht ein langer Weg bevor. Sie befinden sich erst am Anfang. Sie müssen sich beeilen.«
    »Schauen Sie nur«, sagte ich zu Sergej. »Lassen wir jetzt mal meine Frau beiseite, schauen Sie lieber, was mit mir los ist.«
    Momo, in roter Jacke, kam mit dem Rasiermesser zurück.
    Geschickt verbarg ich meinen Schwanz zwischen den Beinen und sah ganz und gar wie eine Frau aus.
    »Ich hab's gewusst!«, sagte sie und betrachtete meinen Bauchnabel.
    »Ich hätte mir die Zähne ausschlagen oder die Eier verletzen können«, sagte ich, meinen Bauchnabel untersuchend. »Aber wie konnte es passieren, dass ich mir im Gully den Bauchnabel aufgerissen habe?«
    »Schlimmer als das«, bemerkte Momo und betrachtete mich aus nächster Nähe.
    »Unsere Schweden warten ungeduldig«, sagte Sergej, weiterhin kniend.
    Ich wusste, dass »Pupók« – »der Bauchnabel« – kein kräftiges Wort der russischen Sprache ist. Darum betrübte mich sein direkter Gebrauch. Ein roter weiblicher Tropfen aus der eigenen Mutter begann sich langsam durch den zentralen Kanal aufwärts zu bewegen.
    »Wo sind wir stehen geblieben?«, fragte Momo streng wie eine Lehrerin. »Schauen Sie auf Ihre Nasenspitze. Wenn Sie sie nicht sehen können, dann bedeutet dies, dass nach Ablauf von fünf Monaten Ihr Tod eintritt.«
    »Was gibt es noch für Indikatoren?«, fragte ich ärgerlich.
    »Wenn die Nasenspitze seitwärts verschoben ist, dann tritt der Tod nach sieben Tagen ein.«
    »Haben Sie vielleicht auch Rituale für ein langes Leben auf Lager?«, fragte ich besorgt. »Na los, her mit dem Rasiermesser!«
    Momo reichte mir das gefährliche Instrument. Mein Bauchnabel war angeschwollen, aufgebläht und sah auf einmal aus wie ein herausgequetschtes Auge. Schwedisches Klopfen ertönte. Wir stiegen in den Bus ein. Lhasa ist eine vorbildliche sozialistische Stadt mit einer großen Anzahl von Bezirks- und

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