Dead: Band 1 - Roman (German Edition)
hinterlässt schmutzige Fingerabdrücke, als läse er einen alten Liebesbrief. Er hebt den Block vor seine Augen und holt tief Luft. Als er ihn sinken lässt, sieht Wendy, dass Tränen über seine Wangen strömen.
» Alles klar, Ethan? «
» Nein « , sagt er. » Ich meine, ja. «
Sie streckt die Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren, doch plötzlich hält sie inne. In Krisen darf man als Führergestalt keine Sanftheit zeigen. Führer müssen in Krisensituationen stark sein. Sie muss stark sein.
» Wo fängt man an, wenn man X bestimmen will? Mir fällt gerade ein, wo wir aufgehört haben. «
» Ist wirklich alles klar, Ethan? « , fragt Wendy.
» Ja. Manchmal vergesse ich, wo wir sind. Jetzt geht’s mir gut. «
» Schau dich doch mal in der Drogerieabteilung um, ob du da was findest, das sich mitzunehmen lohnt « , sagt Wendy. » Besonders Beruhigungsmittel und Schlaftabletten. Prazosin gegen böse Träume. Schau nach Vitaminen, Verbänden, Antibiotika, Bendryl und Ibuprofen. Ach was, nach allem, was nützlich aussieht. «
» Mach ich. «
Wendy sieht sich weiterhin als Polizistin, weswegen sie auch noch immer Uniform trägt. Und besonders das Abzeichen. Symbole sind für sie wichtig, besonders in Krisenzeiten. Die anderen Überlebenden haben ihr anfangs zugestimmt und sie als Autoritätsperson gesehen, doch das hat sich gelegt. Für sie ist Wendy nun zwar eine wertvolle Angehörige des Teams, aber ansonsten auch nur ein Flüchtling, der sich nicht von ihnen unterscheidet. Wendy kann nicht verstehen, wieso die anderen Anne so viel Vertrauen entgegenbringen, wo sie doch viel härter kämpft und für die Gruppe viel größere Risiken eingeht. Wendy möchte nur helfen. Sie möchte dienen und beschützen. Tatsache ist, dass damals in ihrem Revier viele Cops gestorben sind, damit sie ihrem Job weiterhin nachgehen kann. Sie ist den Toten etwas schuldig.
Sie waren, jeder für sich, Zeugen des Weltuntergangs, sie haben eine grässliche Szene nach der anderen gesehen, und jede war schlimmer als die vorherige: Aus brennenden Gemeinden aufsteigende Rauchsäulen. Das in Stücke zerlegte Wrack einer abgestürzten 727, das sich kilometerweit am Parkway entlangzieht – zwischen schwarzen, halb geschmolzenen Autos, an deren Lenkrädern verkohlte Skelette sitzen. Die Infizieren fressen die Toten. Im Radio hört man statt Musik und Werbung nur Geschrei. Für Wendy sind die einst von Menschen bemannten, nun verlassenen Polizeiwagen das Niederschmetterndste überhaupt. Alle Polizisten haben einst den Schwur geleistet, Leben und Besitz zu schützen, doch nun hat die Gewalt sie weggefegt. Die Lücke, die die Gesetzeshüter hinterlassen haben, signalisiert den Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung. Die Lücke bedeutet: Jeder ist sich selbst der Nächste. Die Infizierten haben praktisch nur Minuten gebraucht, um den ganzen Bezirk auszurotten, zu dem ihre Dienststelle gehörte. Die anderen Cops haben ihr das Leben gerettet. Nun muss sie es sich verdienen.
Eigenartigerweise hat die Uniform ihr Leben vermutlich verlängert. Alle Überlebende tragen dunkle Farben, verschiedene Schwarztöne, Dunkelbraun und Grau. Paul trägt zum Beispiel ein schwarzes Pastorengewand mit einem weißen Kragen. Sie sind klug, sie gehören zum Besten, was noch da ist, aber dass sie hier sind, ist mehr oder weniger Zufall. In den Anfangstagen der Seuche sind sie aus dem Bradley gesprungen, und die Infizierten haben sich sofort auf alles geworfen, was in helle Farben gekleidet war. Rot regt sie am meisten auf. Jeder Rotgekleidete ist gestorben oder wurde infiziert. Dann kamen die in Orange, Gelb oder Grün dran. Philip, dem in einen anthrazitfarbenen Anzug und eine graue Krawatte gekleideten Geschäftsmann, war aufgefallen, dass sie alle nur noch lebten, weil sie am Morgen der Schlächterei die richtigen Klamotten angezogen hatten.
» Da kommt was « , ruft der Bengel von der Tür her.
Man hört ein leises Grollen und spürt es als subtile Vibration auch unter den Füßen. Die Überlebenden versammeln sich um den Bengel. Anne erhöht die Vergrößerung ihres Zielfernrohrs und richtet das Gewehr auf die Straße. Das Gefühl der Vibration wandert bis in ihre Knie hinauf.
» Es ist ein Panzer « , sagt sie verwundert und lässt die Waffe sinken. » Und zwar ein ziemlich großer. Er kommt schnell näher. «
Der Panzer durchbricht eine verlassene Polizeisperre, verstreut Müll und Ratten und ist nun so nahe bei ihnen, dass sie die zerschrammte und
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