0694 - Eine Falle für Merlin
Die Nacht war hell. Uber Brocelian-de strahlte der Vollmond. Es war Merlin, als würde die runde weiße Scheibe ihn höhnisch angrinsen. Ihr bleiches Licht schuf harte Konturen und Umrisse in den verbrannten Resten des Zauberwalds.
Diese Landschaft sah Merlin mit anderen Augen, als Menschen es taten. Vielleicht sahen sie etwas ganz anderes als er - es interessierte ihn nicht. Wie auch immer es in der Welt der Sterblichen aussah - hier war es ein Stück verbrannter Erde, mit verkohlten Baumstämmen, Überresten von Fabeltieren, die größtenteils zu Asche zerfallen waren. Und mit dem Zauberbrunnen, der ein für alle Mal vernichtet war, zerstört, halb verschüttet, ausgetrocknet, das Wasser darin verkocht, verdampft.
Was auch immer künftig geschah - dieser Brunnen würde nie wieder seine einstige Wirkung zeigen. Würde nie wieder die Jugend zurückbringen in alte, verwitternde Körper.
Wenigstens brauche ich ihn nicht dafür, dachte Merlin.
Sein Alterungsprozess wurde von einer ganz anderen Magie aufgehalten.
Aber wie lange noch…?
Er war alt, uralt. Älter als jeder Mensch und älter, als mancher Mensch zurückdenken konnte. Vor Jahrtausenden hatte er schon existiert. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er ebenso wie sein dunkler Bruder Asmodis der dunklen Seite der Macht verfallen gewesen war. Aber eines Tages wechselte er die Seiten, und er wurde zu einem der Helfer des Dieners der Schicksalswaage.
Wie lange lag das zurück?
Wie viele Äonen, wie viele Ewigkeiten?
Er wollte es längst nicht mehr wissen. Es war unwichtig geworden.
Wichtig waren nur noch Gegenwart und Zukunft.
Vor allem die Zukunft…
Um sie zu bewahren, musste die Gegenwart geschützt werden.
Merlin atmete die Luft des Zauberwalds. Wie lange war es jetzt her, dass er zerstört worden war? Über zwei Jahre nun schon, weit mehr als das. [1]
Aber es roch immer noch nach Feuer.
Nach Tod und Zerstörung.
Warum bin ich hier? fragte der Zauberer von Avalon sich. Warum ausgerechnet jetzt? Habe ich keine anderen Sorgen?
Er hatte sie.
Denn Yaga, die Hexe, besaß jetzt den Wandteppich der Puppenspielerin! Etwas, das niemals hätte geschehen dürfen! [2]
Selbst Zamorra hatte es nicht verhindern können, dass Baba Yaga dieses wertvolle Zauber-Artefakt an sich brachte.
Der Zauberer schritt durch den regenfeuchten Schlamm, der einst Asche gewesen war. Er trauerte um all das, was hier zerstört worden war, um die Möglichkeiten und Chancen. Gedankenfetzen wirbelten durch sein Bewusstsein. Erinnerungen an Fehler, die er vielleicht begangen hatte. Erinnerungen an die Frau im Mond, an die Puppenspielerin, an Baba Yaga. Manche Bilder verschwammen. Jemand, der so lange gelebt hatte wie Merlin, konnte sich unmöglich exakt an alles erinnern. Selbst ein fotografisches Gedächtnis würde hier längst überfordert sein, weil das Gehirn nur eine bestimmte Menge an Informationen aufnehmen konnte.
Sicher - Merlins Gehirn arbeitete anders als das eines »normalen« Menschen. Es war in der Lage, dort brachliegende Bereiche zu aktivieren. Und doch… es reichte nicht.
Nicht für so unglaublich viele Dinge und Erlebnisse, für so viele Fakten.
Plötzlich fühlte Merlin, dass er nicht mehr allein in Broceliande war.
Da war noch jemand.
Der alte Zauberer lauschte mit seinen feinen, übermenschlichen Sinnen, wandte sich langsam um. Und sah.
Woher kommst du? wollte er fragen, aber er blieb stumm. Nur die Augen des uralten Mannes glänzten jung wie die Ewigkeit, und der Wind bauschte den roten Mantel auf, den er über seiner weißen Kutte trug.
Er sah eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mittleren Alters, schlicht aber edel gekleidet und mit teurem Schmuck behängt. Sie näherte sich ihm langsam.
Die Puppenspielerin war gekommen; jene Zauberin, die Menschen wie Marionetten zu lenken vermochte, über die Magie ihres Wandteppichs.
Den sie jetzt nicht mehr besaß.
Jetzt nicht mehr? Schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Seit damals, als Baba Yaga ihn ihr stahl.
Ausgerechnet Yaga…
Als ob es nicht schon genug Probleme gäbe…
Und nun erschien hier in den Resten des Zauberwaldes die Puppenspielerin!
Was wollte sie jetzt hier?
Langsam kam sie auf Merlin zu.
Und plötzlich erkannte er sie.
Plötzlich wusste er, wen er in ihr wirklich vor sich hatte, und er erschauerte.
Sie war eine der Drei Schwestern des Schicksals!
Und bei jenen hatte er einst einen Teil seiner Lehr- und Wanderjahre verbracht. Vor unendlich langer Zeit… Eine Zeit, die für Merlin
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