Deadline 24
wir fangen sie später wieder ein«, sagte sie. Sie musste das sagen, musste es sogar glauben, obwohl sie tief in ihrem Inneren wusste, dass sie niemals einen Schweber wiedersehen würde.
Auf den ersten Blick wirkte Paul genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, sogar sein Lächeln war noch da. Doch es wirkte leicht verkrampft und der Helikopter bockte. Hatte Paul mitbekommen, dass sein Flugobjekt geentert worden war, und wollte er auf diese Weise dagegen protestieren? Sally holte tief Luft, und während die anderen nach hinten stolperten, sich auf die Bänke fallen ließen, verbannte sie alles, was sie über Windmann, Maschinenkämpfe und trojanische Pferde wusste, hinter die Mauer, die Mauer, die Mauer.
»Hallo Paul«, sagte sie, setzte sich auf den Kopilotensitz, legte ihm den Arm um die Schulter und lehnte sich an ihn.
Zuerst kam das Schmatzen, nicht eigentlich ein Geräusch, eher das Gefühl eines Geräusches. Etwas tastete nach ihr, von der Lehne des Sitzes suchte es seinen Weg unter ihr Hemd, kroch an ihrem Rückgrat entlang wie eine kühle Schlange. Die Berührung war ein Schock, Sallys Atem setzte aus, ihr wurde schwindlig, alle Haare sträubten sich. Gleichzeitig prickelte ihre Haut, als ob winzige Nädelchen sie pieksten oder Insekten mit spitzigen Beinchen auf ihr herumtanzten. Überall war dieses Gefühl, an den Händen, auf den Armen, im Gesicht, in den Seiten, doch am stärksten auf dem Rücken. Instinktiv wollte sie aufspringen, fliehen, das abscheuliche Zeug abschütteln, doch es ging nicht mehr! Sie kam vom Sitz nicht mehr frei, von Pauls Schulter nicht mehr los, war mit ihm verwachsen wie ein siamesischer Zwilling! In Sekundenschnelle hatte Org sein Gespinst gewoben und seine schillernden Fäden in sie hineingegraben. Kaltes Grausen erfasste sie, steigerte sich zu Entsetzen, als sie fühlte, wie das schlangenartige Ding ihren Nacken erreichte, sich dort hineinbohrte, wo der Schädel begann, sich teilte, vielarmig ausbreitete, über die Schultern zur Brust, über den Kopf, wie es ihr in die Ohren schlüpfte! Sie wollte wegrennen und konnte es nicht, wollte schreien und brachte keinen Ton hervor, wollte denken, dass dies ein Albtraum sei, und konnte nicht denken, konnte nur Panik empfinden, Grauen, Todesangst. Sie würde sterben!
Da ließ die Angst nach, verebbte, versank, verdunstete, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. An ihre Stelle trat Wohlbehagen, Entspannung, wie sie einsetzt, wenn man aus der Gluthitze eines Sommermittags in ein kühles Gewölbe tritt. Das Behagen durchströmte sie, gelangte in jede Zelle ihres Körpers. Sie spürte eine vertraute Gegenwart, vielleicht Paul, vielleicht Org, unmöglich zu unterscheiden. Die beiden waren fast schon eins, ein Wesen, und außer ihm war nichts von Bedeutung. Sie verstand den anderen, obwohl er nicht sprach, auch nicht in Gedanken, er brauchte keine Worte. Auch sie würden sich vereinen, ein einziges Wesen sein, erfüllt von Leichtigkeit und Unbekümmertheit, wie es nur den wirklich mächtigen Geschöpfen vergönnt war. Frei würden sie sein und fähig zu tun, was sie wollten, losgelöst, ledig aller Verpflichtungen, aller Notwendigkeiten! Kalt war diese Macht, doch Kälte war gut, klar wie Kristall, sie schärfte die Sinne, rückte alles zurecht, brachte alles nah, die merkwürdigen Bauten dort unten, die armseligen, hilflosen Wesen. Man wollte sie haben, diese Wesen, sie verschlingen, sie töten, man konnte es tun, es gab nichts, das einen hinderte, keine Vorschriften, keine Bindungen, bis auf wenige noch.
Zwei waren es, zwei lästige, schwache Fäden, bald schon würden auch sie reißen. Doch noch hielten sie, banden den anderen an diese Gegend dort unten, an diese verfallenen Bauten und an das Lied, das flehentliche Rufen. Er musste dem Lied folgen, den Sturm abbrechen, das herrliche Tosen einstellen, rettend eingreifen, tief hinabfliegen … Komm, lockte der andere, komm, gib dich hin! Mächtig war der Lockruf, verführerisch. Sie wollte ihm nachgeben. Wer war sie? Sie war immer noch Sally mit der Mauer im Kopf. Die Mauer, die Mauer … Mauer im Kopf … riesengroß und hoch, erbaut aus gebranntem Stein, rostbraun, endlos. Stein auf Stein, hoch wie der Himmel, trutzig und stark.
Was ist hinter der Mauer?, fragte der andere. Er muss tiefer hinab, dem Lied des lieblichen Wesens folgen, da ist es, da steht es, da unten, und ruft ihn mit lieblicher Stimme. Tiefer gehen, tiefer!
Gib dich mir, lockte der andere. Lass uns eins werden, gib
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