Deadline 24
Schmerzen, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Sally hatte den Eindruck, seine Brustschmerzen wuchsen in dem Maße, in dem die Vorräte an Kuppeldraht schwanden. Nur noch zwei Rollen lagen im Geräteschuppen.
»Manchmal gerate ich in Zweifel darüber«, begann Großvater umständlich, »ob Gott etwas mit diesen Bestien zu tun hat. Dann fürchte ich fast, die Gegenseite hat hier ihre Hände im Spiel.« Schwerfällig ließ er sich auf einen Stapel Säcke nieder, massierte seine Brust und unterdrückte ein Aufstoßen. Nach einer Weile hob er den Kopf und schaute in den Himmel über der Kuppel. »Man könnte glauben, es würden von Tag zu Tag mehr. Ich frage mich, von was sie leben. Bestimmt haben sie da draußen längst alles vertilgt, von Mäusen und Käfern bis zu Gorgonen und Spuckvipern. Für Letzteres sollten wir ihnen allerdings dankbar sein. Wir ganz besonders.«
»Das ist wahr«, murmelte Sally zerstreut. Ihre Aufmerksamkeit wurde von etwas abgelenkt, etwas Kleinem, Rotem, das am Kuppelgitter flatterte und dort ganz und gar nicht hingehörte, jedenfalls nicht mehr.
»Was ist?«, fragte Großvater, der sah, wie sie sich versteifte.
»Ein Wimpel«, sagte Sally. »Da hängt noch ein Wimpel.«
»Unmöglich«, erwiderte Großvater. »Paul und Vigo haben mir gerade ihre eingesammelten Wimpel gebracht. Ich habe sie mit deiner Liste verglichen und keiner fehlte!«
»Aber dort oben ist noch einer, schau!« Sie deutete zum Kuppelbogen hinauf. »Wer weiß, wie lange er schon da hängt, die hohen Brotbaumzweige haben ihn verdeckt. Aber heute Nachmittag haben wir die Zweige geschnitten. Eigentlich hätte er uns da bereits auffallen müssen.«
Großvater erhob sich, reckte den Hals und beschattete die Augen gegen die Abendsonne. »Tatsächlich, jetzt sehe ich ihn auch. Was für eine unglaubliche Nachlässigkeit! Das ist doch Vigos Abschnitt, oder?«
»Klar«, sagte Sally bitter. »Klar ist das Vigos Abschnitt. Der Faulpelz hat dir irgendeinen roten Fetzen gezeigt, als du die eingesammelten Wimpel mit meiner Liste verglichen hast. Vermutlich denkt er, ich fliege die Kuppel Tag für Tag zu meinem Vergnügen ab, und die Wimpel hänge ich ans Gitter, weil sie dort so hübsch aussehen!«
»Vigo ist nicht wirklich faul«, widersprach Großvater. »Er ist nur …«
»… oberfaul!«, fiel sie ihm ins Wort. »Er drückt sich vor der Arbeit, wo er kann, und repariert nicht mal die markierten Stellen. Wer weiß, vielleicht ist da schon ein Loch! Er hat es nicht verdient, bei uns zu leben. Rausschmeißen solltest du ihn!«
»Ihn rausschmeißen? Fortjagen ins offene Land? Das wäre sein Todesurteil, nicht mal nachts hätte er eine Chance!« Großvaters Gesicht rötete sich vor Empörung. »Ich kann nicht glauben, was du da sagst!«
»Schon gut.« Sally war zu weit gegangen, das merkte sie selbst. »Ich hab’s nicht so gemeint«, beteuerte sie. »Er geht mir nur schrecklich auf die Nerven mit seiner Faulheit.«
»Man muss Geduld mit Vigo haben«, versuchte Großvater sie zu beschwichtigen. »Er ist krank im Kopf, er hat zu viel Schreckliches erlebt.«
O bitte, nicht schon wieder, dachte Sally. Bitte nicht schon wieder Vigos schreckliche Vergangenheit. Dass er der einzig Überlebende eines kleinen, schlecht ausgerüsteten Karawanenfahrzeugs war und so weiter und so fort. Sie konnte das nicht mehr ertragen.
»Dann müssten wir auch krank im Kopf sein!«, entgegnete sie wütend. »Schreckliche Erlebnisse haben wir alle!«
»Ich weiß, mein Sternchen, ich weiß«, sagte Großvater kummervoll.
Sallys Zorn verpuffte, als er sie »Sternchen« nannte. Er liebte sie, sie war sein Augenstern. Sein Herz tat ihm weh vor lauter Sorgen um ihre Zukunft und die der anderen Familienmitglieder. Sie sollte es ihm leichter machen, nicht seinen Kummer durch wütende Reden noch vergrößern.
»Komm, wir gehen ins Haus«, sagte sie, nahm seinen Arm und legte ihn sich über die Schulter. »Es ist bald Zeit zum Abendessen. Stütz dich auf mich, bestimmt bist du müde.«
»Du hältst mich wohl für einen Tattergreis«, protestierte Großvater, doch er ließ seinen Arm auf ihrer Schulter, auch wenn er sich nicht auf sie stützte, sondern seine Enkelin liebevoll an sich zog. »Und mit Vigo werde ich ein Wörtchen reden«, versprach er.
Auf dem Sonnendach waren Vigo und Sallys Bruder Paul gerade dabei, die Schweber auf die Nacht vorzubereiten. Dazu mussten die riesigen durchscheinenden Flügel erst von Staub und Schmutz befreit und dann auf dem
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