Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
DER STREUNER
(The Stray)
von Linda Evans
Als der Streuner auf der Türschwelle erschien, versuchte Dr. Scott MacDallan gerade unter großem Schwitzen und Fluchen, einen sich undankbar windenden kleinen Teufel aus der Steißlage in die günstigere Geburtsposition mit dem Kopf nach unten zu drehen.
Wären Mrs. Zivoniks ältere Kinder nicht alle leicht und komplikationsfrei zur Welt gekommen, hätte Scott einen einfachen Kaiserschnitt vorgenommen. Es ist jedoch nicht weiter schwierig, ein Kind aus der Steißlage zu befreien, und die Monitore zeigten eindeutig, dass weder Kind noch Mutter in Gefahr schwebten. Statt die Frau durch den Einschnitt für die nächsten Tage ans Bett zu fesseln, hatte er sich für die altehrwürdige Methode entschieden: Er tastete nach dem Säugling, ergriff ihn mit den Fingern und drehte ihn vorsichtig in die richtige Lage. Mrs. Zivonik hielt sich wunderbar und riss, obwohl von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, einen schlechten Witz nach dem anderen (es sei denn, gelegentliche Wehenkrämpfe zwangen sie zu heftigem Grunzen, Keuchen und tiefem Stöhnen). Endlich fand Scott die Zehen des Säuglings und fragte sich beiläufig, wie er eigentlich auf den Gedanken verfallen sei, dieser Eingriff wäre einfach; er gab sich Mühe, die unbehaglichen Laute Evelina Zivoniks zu ignorieren – und in diesem Moment überrollte ihn eine Welle emotionaler Qual, die so stark war, dass er die Augen verdrehte und zusammensackte.
Mit seinem unwillkürlichen Grunzen und der Bewegung entlockte er seiner Patientin ein erschrockenes Keuchen. »Doc?«
Scott blinzelte, bezwang seine Panik und brachte hervor: »Äh … ‘tschuldigung. Keine Sorge, mit Ihnen und dem Baby ist alles okay.« Um Gottes willen, Scott, reiß dich zusammen! Sonst glaubt deine Patientin, du wärst so bekloppt wie deine unsäglichen Vorfahren – die, von denen ein paar auf dem Scheiterhaufen geendet sind …
Scott blinzelte wieder, und Evelina Zivonik richtete sich so weit auf, dass sie über ihren geschwollenen Bauch hinwegzuspähen vermochte. »Das ist prima. Aber Sie sehen gar nicht gut aus, Doc.«
Hinter der Schlafzimmertür hob Fisher – der in Scotts Haus und Praxis volle Bewegungsfreiheit genoss, aber nicht in den Häusern der Patienten – ein Blieken an, das nur abgrundtiefe Verstörung bedeuten konnte. Um genau zu sein, hatte Scott noch nie gehört, dass der Baumkater einen solchen Laut von sich gab. Die starken Emotionen aber, die von seinem Gefährten gleichzeitig auf ihn überschlugen, erschütterten ihn derart, dass er seiner Patientin unverzüglich die Wahrheit mitteilte.
»Mir geht es nicht wirklich nicht gut. Genauer gesagt, meinem Baumkater.«
»Ihrem Baumkater?«, wiederholte sie erstaunt. Eine unterschwellige Furcht färbte die beiden Wörter. Baumkatzen wurden von ihren neuen menschlichen Nachbarn mit Ehrfurcht und großer Sorge zugleich betrachtet, denn man war sich überhaupt nicht sicher, wie man auf ihre Existenz reagieren sollte.
»Ja. Er ist aufgeregt, sogar sehr aufgeregt, und ich weiß nicht, wieso.« Vorsichtig, Scott … du begibst dich hier auf verdammt dünnes Eis. »So einen Laut habe ich noch nie von ihm gehört«, fügte er hinzu und blickte besorgt zur geschlossenen Schlafzimmertür hinüber.
»Nun, im Moment habe ich keine schweren Wehen«, entgegnete Evelina zögernd. Sie war unruhiger geworden. »Wenn es ein Problem mit dem Baumkater gibt, dann sollten Sie sich darum kümmern. Wenn er verletzt ist oder krank … also, ich wollte heute sowieso nicht mehr weg, da könnten Sie doch gerade nachsehen, was mit ihm los ist.«
Sein Berufsethos verbot ihm natürlich, eine Patientin mitten während der Entbindung sich selbst zu überlassen, um seinen Freund zu trösten. Trotzdem konnte er Fishers tiefe Verstörung nicht einfach übergehen. Der Baumkater wusste, wie man Türen öffnet, und die Schlafzimmertür war zwar geschlossen, aber nicht abgesperrt. Scott fühlte sich unerträglich hin und her gerissen: Einerseits wollte er sich unbedingt vergewissern, was seinen hoch geschätzten Freund bedrückte, andererseits musste er dieses Kind auf die Welt bringen.
Evelina deutete sein Zögern richtig. »Rufen Sie ihn doch herein. Irina hat uns so viel von Fisher erzählt. Sie hat uns sogar Bilder gezeigt, aber mit eigenen Augen habe ich noch keine Baumkatze gesehen«, fügte sie mit leisem Bedauern hinzu. Scott entschied sich augenblicklich und lächelte sie erleichtert an.
»Vielen Dank.
Weitere Kostenlose Bücher