Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
seine leiblichen Gelüste funktioniert. Mittlerweile war das Fleischliche drauf und dran zu obsiegen. »Du weißt, was ich von den politisch Aufrechten halte«, erwiderte er und hob den Löffel erneut an die Lippen. »Mir graust vor ihnen. Und nichts verabscheue ich mehr als feministische Biographien. Die Autorinnen bemächtigen sich irgendeines trivialen Lebenswerks und blasen es mit Freudscher heißer Luft und grandiosen feministischen Theorien so weit auf, daß du es nicht mehr wiedererkennst.«
Margerys linke Augenbraue zuckte noch ein Stück weiter in die Höhe. Das war für Darcy das Zeichen, daß er entschieden zu weit gegangen war. »Du willst doch wohl Lydias Werk nicht als trivial bezeichnen, oder?« entgegnete sie. »Und wenn man dir so zuhört, könnte man glauben, Victoria McClellan sei ein ungepflegter Blaustrumpf. Auf mich hat sie stets einen sehr vernünftigen und gut informierten Eindruck gemacht. Jedenfalls kam sie mir nicht wie jemand vor, der sich in wilden Theorien verliert.«
Darcy schnaubte verächtlich. »Oh, nein! Dr. McClellan ist alles andere als ungepflegt. Im Gegenteil, sie sieht eher wie das Model einer amerikanischen Shampoo-Reklame aus. Sie ist der Prototyp der perfekten Frau der Neunziger - brillante akademische Karriere, Parademutter und Ehefrau ... Leider war sie in der Frauenrolle nicht erfolgreich genug, um ihren Mann davon abzuhalten, reihenweise seine Examensstudentinnen zu vögeln.« Er mußte unwillkürlich lächeln. Ian McClellans einziger Fehler war seine mangelhafte Diskretion.
»Darcy!« Margery schob ihren leeren Suppenteller von sich. »Das war unerzogen und gewöhnlich.«
»Also, Mutter, ich bitte dich. Das weiß doch jeder. In der Englischen Fakultät sind die pikanten Einzelheiten Tagesgespräch. Man flüstert sie sich zu, sobald die blonde Victoria außer Hörweite ist. Und ich weiß wirklich nicht, weshalb es unerzogen sein soll, die reine Wahrheit zu sagen.«
Margery preßte die Lippen aufeinander und warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, während sie den Deckel über dem Hauptgang lüftete und die Teller zu füllen begann. Eins zu null für mich, dachte Darcy zufrieden. Margery war nicht prüde, wie die mit zunehmend plastischer Deutlichkeit geschilderten Sexszenen in ihren letzten Romanen bewiesen. Darcy vermutete, daß sie sich lediglich in der Rolle der schockierten Biederfrau gefiel.
Er seufzte zufrieden, als Margery seinen Teller vor ihm abstellte. Kalter pochierter Lachs mit Dill-Sauce, heiße neue Kartoffeln in Butter, frischer junger Spargel - er fürchtete den Tag, an dem sein Charme bei Grace versagte. »Und jetzt fehlt nur noch ...« Er legte überwältigt die Hand aufs Herz. »... Zitronentorte zum Nachtisch?«
Keinesfalls beschwichtigt machte sich seine Mutter über ihren Fisch her. Darcy konzentrierte sich auf seine Mahlzeit, bereit, die Sache auszusitzen. Er nahm kleine Bissen, um den Genuß zu verlängern, und sah in den Garten hinaus, während er kaute. Vor Jahren hatte er Lydia hierhergebracht, in das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Haus seiner Familie am Rand des Dorfes Madingley. Damals hatte sein Vater noch gelebt, ein reservierter Mann in Tweed; die Mutter zeigte die ihrem Erfolg entsprechende Eleganz. Es war an einem ähnlichen Frühlingstag wie heute gewesen, und Margery und Lydia waren Arm in Arm durch den Garten spaziert, hatten die Narzissen bewundert und gelacht. Er war sich wie ein Idiot vorgekommen, ein Hornochse und Ausgestoßener angesichts ihrer feenhaften Eleganz und Aura weiblicher Intimität. In jener Nacht hatte ihn die Frage wachgehalten, welche Geheimnisse sie sich wohl erzählt haben mochten.
Er erinnerte sich an Lydias Profil, damals im Auto auf der Fahrt von Cambridge nach Madingley. Es hatte vor Anspannung über die erste Begegnung mit Margery Lester ganz streng gewirkt, und er sah wieder ihr viel zu braves Kleid und sorgfältig frisiertes Haar vor sich. Dieses eine Mal war die rebellische junge Lyrikerin jeden Zentimeter die dörfliche Lehrertochter gewesen, als die sie geboren worden war. Er hatte darüber herzlich gelacht, aber leider hatte am Ende jemand anderer ...
»Darcy! Du hörst mir überhaupt nicht zu.«
Er sah seine Mutter lächelnd an. Schließlich hatte er gewußt, daß ihr Zorn bei der Aussicht, eine schweigende Mahlzeit erdulden zu müssen, verrauchen würde. »Tschuldigung, Mutter. Ich habe mich in den Gänseblümchen verloren.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher