Deer Lake 02 - Engel der Schuld
strengen Einhaltung von Regeln bestand, die keinen Punkt auf dem I und keinen Querstrich am T vergaß und immer alles zweimal überprüfte. Sie zog Grenzen. Sie liebte die Kontrolle. Sie hatte nicht die Absicht, ihm irgend etwas zu enthüllen.
»Aber das haben Sie bereits, Miss North«, sagte er und zog den Kopf zwischen die Schultern, als der Wind ein bißchen stärker zubiß und eine Wolke feinen weißen Schnees über den Parkplatz blies. »Das haben Sie bereits.«
3
Das Fontaine-Hotel lag der Stadtverwaltung schräg gegenüber, auf der entgegengesetzten Seite des Parks, der den altmodischen Stadtplatz bildete. Normalerweise hätte Ellen einen forschen Spaziergang durch den Park genossen, der dann in der Wärme der wunderbar restaurierten viktorianischen Lobby des Fontaine-Hotels geendet hätte. Aber das waren keine normalen Zeiten. Sie parkte ihren Wagen auf dem Platz neben dem Hotel und blieb mit voll aufgedrehter Heizung sitzen. Als ob das Zittern in ihren Armen und Beinen etwas mit der Kälte zu tun gehabt hätte.
Sie sah sich selbst gern als stark, geschickt, welterfahren und fähig, mit jeder Situation fertig zu werden. In wenigen Augenblicken, mit ein paar Sätzen war es einem einzelnen Mann gelungen, sie voll und ganz aus dem Konzept zu bringen. Ohne daß er Hand an sie gelegt hatte, ohne auch nur eine verbale Drohung, hatte er ihr gezeigt, wie verletzlich sie tatsächlich war.
Jay Butler Brooks. Sie hatte in der Kassenschlange im Supermarkt sein Gesicht auf dem Titel von People gesehen. Sie hatte seinen Namen auf Buchumschlägen gelesen, erinnerte sich daran, einen Artikel über ihn in einer der letzten Ausgaben der Newsweek überflogen zu haben.
Er war einer jener Anwälte, die neuerdings auf Autor umsattelten. Aber anstatt durch Gerichtsromane berühmt zu werden, hatte Brooks sich dafür entschieden, Kapital aus wahren Verbrechen zu schlagen. Seine Bücher verkauften sich millionenfach, und Hollywood vernaschte sie wie Schokolade.
Die Geschichte hatte bei Ellen einen schlechten Geschmack im Mund hinterlassen. Sie hielt das Ausschlachten wahrer Verbrechen zur Unterhaltung für schmierig und pervers, für vulgären Voyeurismus, der nur dabei half, die Grenzen zwischen Realität und Phantasie zu verwischen und die Amerikaner der Gewalt gegenüber noch mehr abzustumpfen. Aber Geld war Macht, und zwar große Macht. Jay Butler Brooks hatte mehr
Vermögen als die meisten Länder der dritten Welt. » Ich ziehe es vor, die Leute . . . kalt zu erwischen . . . «
Bei der Erinnerung an das Timbre seiner Stimme ging ein Kribbeln durch ihren Körper. Dunkel, warm, rauchig. Verf ü hrerisch. Das Wort flüsterte gegen ihren Willen, gegen alle Logik in ihrem Kopf. Er hatte nichts Verführerisches gesagt. Die Begegnung hatte keine sexuellen Untertöne gehabt. Trotzdem hing das Wort wie ein Schatten in ihren Gedanken. Verf ü hrerisch. Gef ä hrlich.
» Wenn ich Ihnen etwas antun wollte, w ä re ich clever genug, Ihnen nach Hause zu folgen . . . «
Reporter krochen aus allen Fugen der Mahagonitäfelung, sobald sie den Fuß in die elegante Lobby des Fontaine gesetzt hatte. Ellen drängte sich ohne Kommentar zwischen ihnen hindurch und atmete erleichtert auf, als sie sah, daß ein uniformierter Polizist die Türen zum Aufzug bewachte. Er nickte ihr zu, als sie in die Kabine trat, und hielt die Leute auf, die ihr folgen wollten. Er verlangte, daß sie ihm ihre Zimmerschlüssel zeigten. Als einige von ihnen hastig in ihre Taschen griffen, schlossen sich die Türen.
Man hatte Wrights Frau ein Zimmer im ersten Stock gegeben, damit sie keinen Anreiz sah, sich aus dem Fenster zu stürzen. Die Frau, die die Tür von Zimmer 214 öffnete, war nicht Karen Wright. Teresa McGuires Elfengesicht lugte durch den Spalt, den die Sicherheitskette ließ, mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen und zusammengepreßtem Mund. Die Koordinatorin für Opfer und Zeugen von Park County hatte den Job des Babysitters aufgehalst bekommen, weil es weder bei der Polizei von Deer Lake noch bei der von Park County Frauen gab.
»Ellen, Gott sei Dank«, flüsterte sie und schloß kurz die Tür, damit sie die Kette öffnen konnte. »Ich dachte, es wäre Paige Price. Können Sie sich vorstellen, daß sie geglaubt hat, sie könnte sich an mir vorbeireden, weil sie einmal einen Freund von mir wegen einer Story über die Rechte von Opfern interviewt hat? Dieses Miststück. Ich würde Kanal Sieben nicht mal anschauen, wenn man mir eine Pistole an den
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