Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
begangen zu haben, und die Neigung, alles vor allen und überall zu erzählen und zu bereden (alles, was man wußte oder gehört hatte, zumeist Firlefanz, Unbedeutendes, nichts), um auf diese Weise das Abenteuer oder seinen Abglanz zu kosten und das Risiko zu erfahren und auch den unbekannten, neuen Schauer der eigenen Wichtigkeit. Was nützt es, etwas Wertvolles zu besitzen, wenn man es nicht vorführt und zur Schau stellt und sogar den anderen unter die Nase reibt, wozu dient etwas Begehrenswertes, wenn man nicht das fremde Begehren oder zumindest seine Möglichkeit mit Händen greifen kann und nicht die Gefahr spürt, daß es einem entrissen wird, wozu ein Geheimnis, wenn es nicht irgendwann erzählt und verraten wird? Nur so läßt es sich in seiner ganzen Schrecklichkeit und seinem ganzen Prestige ermessen. Früher oder später wird man es leid, immer für sich zu denken: Ach, wenn sie wüßten, ach, wenn er erfahren würde, oh, wenn sie ahnen könnte, was ich für mich behalte. Und früher oder später kommt der Augenblick, es nach außen zu tragen, sich von ihm zu trennen, es zu übergeben, sei es auch ein einziges Mal und einem einzigen Menschen, früher oder später ergeht es uns allen so. Aber da die Bürger (mit Ausnahmen) nicht unterscheiden konnten, was Gold war und was Tand, legten viele lustvoll schaudernd alles auf die Theke oder den Tisch, voll heimlicher Hoffnung, angezogen von der Vorstellung, einen bösen Spion vor sich zu haben, während sie gleichzeitig beschwörend die Finger kreuzten und den Himmel anflehten, daß keiner da sein möge und auch niemand, der es weitergeben konnte, ich meine ihr leichtfertiges oder wirres Erzählen. Und nichts war aufregender, als wenn irgendein Landsmann mit mehr Verantwortungsbewußtsein und Standhaftigkeit sie dann zum Schweigen brachte und ihnen ihre Unbesonnenheit vorwarf, denn das galt dem Redseligen als fast eindeutiges Zeichen dafür, daß er auf das verbotene Terrain des Ernsthaften und Bedeutungsvollen und Gewichtigen vorgedrungen war, das er zuvor vermutlich niemals betreten hatte. Diese bange Erregung, sich der Gefahr eines Schadens auszusetzen und diesen nebenbei für die gesamte Nation heraufzubeschwören, ist in der Zeichnung mit dem Mann veranschaulicht, der aus einer Kabine telefoniert, die von kleinen Führern belagert wird, und auch im dritten Feld der Bilderfolge, mehr als im zweiten, die mit dem Seemann und seiner Braut beginnt, hier hast du sie. Die meisten Menschen, egal ob intelligent oder dumm, respektvoll oder rücksichtslos, giftig oder gutmütig, gleichen sehr, ziemlich oder etwas dieser jungen Frau mit dem kastanienbraunen hochgesteckten Haar: Sie hören im allgemeinen erstaunt und genußvoll zu, auch wenn schrecklich ist, was man ihnen mitteilt, weil sie bereits durchdrungen sind vom vorweggenommenen Vergnügen, ihrerseits die Neuigkeit weiterzugeben, auch wenn sie widerwärtig, furchtbar oder mit gewaltigem Verdruß verbunden ist und bei anderen die gleiche Reaktion hervorruft wie jetzt bei ihnen (sie sind zu kurzer, gelegentlicher Aufmerksamkeit bereit, weil sie sich schon vorstellen, wie sie es weitererzählen). Im Grunde interessiert und zählt für uns nur das, was wir teilen, was wir weitergeben und vermitteln. Wir möchten uns immer als Glied einer Kette fühlen, wie soll ich sagen, als Opfer und Träger einer unerschöpflichen Ansteckung. Und die größte Ansteckung, die Ansteckung, die allen zugänglich ist, ist die der Worte, dieser Plage des Redens, unter der auch ich leide, du siehst ja, wie es mir ergeht, wie ich in Fahrt komme, sobald ihr mir die Zügel schießen laßt. Wieviel größer daher das Verdienst derer, die sich geweigert haben, dieser unserer vorherrschenden Neigung zu folgen. Und ungleich größer das Verdienst jener, die brutal verhört wurden und dennoch nichts sagten, nichts verlauten ließen. Obwohl ihr Leben auf dem Spiel stand und sie es verloren.«
Ich hörte das Klavier vom Haus her, Hintergrundmusik für den Fluß und die Bäume, für den Garten und Wheelers Stimme. Eine Sonate von Mozart vielleicht, sie konnte auch von einem Bach sein, Johann Christian, sein Meister und armer genialer Sohn des Genies, er hatte lange Zeit in England gelebt, und dort kennt man ihn in der Tat als ›Londoner Bach‹ und spielt ihn oft und gedenkt seiner, ein englischer Deutscher wie die vom Warburg-Institut und jener bewundernswerte Wiener Schauspieler, der zuerst Adolf Wohlbrück geheißen und ebenfalls seinen Namen
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