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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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erfassen, glaubst du nicht? Und immer eine eher zwecklose Anstrengung, denn kein partielles Ergebnis wird dafür entschädigen.«
    Wheeler hielt inne und zeigte auf meine Schachtel, um mich um eine Zigarette zu bitten. Ich reichte sie ihm, bot sie ihm an, gab ihm sogleich Feuer. Er nahm ein paar Züge und betrachtete verwundert die Glut, als fürchtete er, sie würde nicht brennen, zweifellos nicht gewöhnt an so leichten, faden Rauch, wie ich ihn bei mir zu tragen pflege.
    »Und was hatten Sie mit dem Ganzen zu tun?« wagte ich zu fragen.
    »Nichts. Damit nichts oder ich war einer mehr, privilegiert. Ich sagte dir ja schon, daß ich mich während eines gut Teils dieser Jahre an Orten aufhielt, die weniger gestraft waren als London, mit schlechtem Gewissen. Aber mit dem, was sich bald daraus ergab, indirekt: die Bildung der besagten Gruppe. Als die Leute vom MI6 und vom MI5 merkten, was zu häufig geschah und was wir heute den kollateralen, gegenteiligen Effekt der Initiative nennen würden, kam irgend jemand auf die Idee, wenigstens Nutzen daraus zu ziehen oder es ein wenig zu unseren Gunsten zu wenden, in unseren Dienst zu stellen. Wer immer es war – Menzies, Vivian, Hollis oder Churchill höchstpersönlich, egal wer –, er hatte erkannt, daß man Leuten, die den Wunsch haben, zu reden und gehört zu werden (und nicht einmal das war bisweilen nötig), nur angemessen zuzuhören brauchte, sie nur reden lassen und mit Scharfsinn, Deduktionsvermögen, Mut zur Deutung und Talent für Assoziation beobachten mußte – das heißt mit allem, was man den erfahrenen Deutschen unterstellte und sogar zugestand, die uns unterwanderten, und den heimlichen Nazianhängern, die sich seit jeher auf unserem Boden befanden –, um ihr Inneres oder ihr Fundament zu erkennen, fast ihr Wesen; um zu wissen, wozu sie taugten und wozu nicht und wie weit man ihnen trauen konnte, welche ihre Charaktereigenschaften und Vorzüge, ihre Mängel und Beschränkungen waren, ob ihr Geist widerstandsfähig war oder schwach, käuflich oder unbestechlich, feige oder wagemutig, verräterisch oder loyal, undurchdringlich oder empfänglich für Schmeichelei, egoistisch oder selbstlos, arrogant oder servil, heuchlerisch oder aufrichtig, entschlossen oder zaudernd, streitlustig oder sanftmütig, grausam oder liebevoll, alles, was auch immer, alles. Man konnte auch vorher wissen, wer imstande wäre, kaltblütig zu töten, und wer, sich töten zu lassen, wenn dies erforderlich war oder man es ihm befahl, obwohl letzteres immer bei allen am schwersten zu ergründen ist; wer zurückweichen und wer jeden Schritt nach vorn tun würde, auch den wahnsinnigsten; wer verraten, wer unterstützen, wer verstummen, wer sich verlieben würde, wer neidisch oder eifersüchtig wäre, wer uns im Regen stehen lassen oder uns immer beschirmen würde. Wer uns verkaufen könnte; und wer teuer und wer billig. Es kann sein, daß die Personen, die redeten, selten etwas sehr Bedeutsames oder Interessantes erzählten, aber am Ende sagten sie fast alles über sich selbst, sogar wenn sie sich verstellten. Das war es, was man herausfand. Das ist es, was heute noch immer geschieht, und das ist, was wir wissen.«
    »Aber die Leute sind nicht aus einem Guß«, sagte ich. »Sie hängen von den Umständen ab, von dem, was ihnen widerfährt, und außerdem ändern sie sich mit der Zeit, sie werden schlimmer oder besser, oder sie verfestigen sich. Mein Vater pflegt zu sagen, wenn es nicht einen Krieg gegeben hätte, wie wir ihn gehabt haben, dann hätten die meisten Personen, die in seinem Verlauf oder bei seinem Ende oder später Niederträchtigkeiten begingen, mit Sicherheit ein anständiges Leben oder zumindest eines ohne große Flecken geführt; und sie hätten nie erfahren, wozu sie fähig waren, zu ihrem Glück und zu dem ihrer Opfer. Mein Vater gehörte zu ihnen, das wissen Sie.«
    »Ja, die Leute sind nicht aus einem Guß, Jacobo, und dein Vater hat recht. Niemand ist für immer so oder auf eine bestimmte Weise, wer hat nicht plötzlich bei einem geliebten Menschen einen beunruhigenden, unerwarteten Wesenszug entdeckt (und dann geht die Welt für einen unter); man muß immer auf der Hut sein und darf niemals etwas als endgültig betrachten; oder nicht alles, besser gesagt, denn einige Dinge sind wirklich unumkehrbar. Und doch und trotz allem: Es stimmt auch, daß wir von Anfang an bei anderen und bei uns selbst sehr viel mehr sehen, als wir vor uns zugeben. Ich sagte dir schon, das

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