Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
mit ihrem Regenschirm, der sie bedeckte, und das Tier, das – tis, tis, tis – schutzlos dahintrottete. Als sie sich der Vorderfront näherten, verschwanden sie fast ganz aus meinem Gesichtsfeld, meine Sicht war zu senkrecht, als sie vor der Tür stehenblieben, nur ein Stück der Kuppel des aufgespannten Regenschirms war für mich sichtbar. Die Klingel ertönte, es war die von unten. Ich schaute noch eine Sekunde vergeblich nach draußen bei hochgeschobenem Fenster, reckte mich, neigte mich hinaus (mein Nacken und mein Rücken wurden naß), bevor ich mich zur Wohnungstür begab, um zu antworten: alles, außer dem gewölbten Stoff, befand sich außerhalb meiner lotrechten Sicht. Ich nahm das Haustelefon ab. »Ja?« sagte ich auf englisch, es war eine wörtliche Übersetzung aus meiner Sprache, in der ich dachte, und in dieser sprach man auch mit mir: »Jaime, ich bin’s«, sagte die weibliche Stimme. »Bitte, kannst du mir aufmachen? Ich weiß, es ist etwas spät, aber ich müßte mit dir sprechen. Es wird nicht lange dauern, nur einen Augenblick.«
So machen es immer alle, wenn sie anrufen oder an der Tür klopfen, sie sagen nur ›ich bin’s‹, ohne ihren Namen zu nennen, alle, die nie daran denken, daß ›ich‹ niemals jemand ist, und auch alle, die sicher sind, daß sie die Gedanken der gesuchten Person sehr oder ziemlich beschäftigen. Oder alle, die keinen Zweifel haben, daß sie ohne weiteres – wer sonst – beim ersten Wort und im ersten Augenblick erkannt werden. Und die Frau mit dem Hund hatte recht, wenn sie letzteres annahm, mochte es auch unbewußt und unüberlegt sein. Denn ich erkannte in der Tat ihre Stimme und machte ihr von oben die Tür auf, ohne mich zu fragen, warum sie mich in der Nacht zu Hause aufsuchte und heraufkam, um mit mir zu sprechen.
Juli 2002
(Ende des ersten Teils von Dein Gesicht morgen )
Über den Autor
Javier Marías, 1951 in Madrid geboren, hat bisher zehn Romane, zwei Erzählbände und mehrere Sammelbände mit Essays und Zeitungsartikeln veröffentlicht. Seine Romane wurden in 34 Sprachen übersetzt, erscheinen in 44 Ländern und wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet: »Mein Herz so weiß« mit dem Spanischen Kritikerpreis und dem IMPAC Dublin Literary Award; »Morgen in der Schlacht denk an mich« mit dem Rómulo-Gallegos-Literaturpreis, dem Prix Femina étranger und dem Mondello-Preis. Für sein Gesamtwerk wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis geehrt. Weltweit wurden seine Bücher mehr als fünf Millionen mal verkauft.
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