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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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größte Problem ist, daß wir normalerweise nicht sehen wollen, wir wagen es nicht. Fast niemand wagt, wirklich zu sehen, schon gar nicht, sich einzugestehen oder sich zu erzählen, was er wirklich sieht, denn es ist oft nicht angenehm, was man mit dem Blick, der sich nicht täuschen läßt, erschaut oder erahnt, mit dem tiefsten, der sich niemals damit zufriedengibt, sämtliche Schichten zu durchdringen, sondern nach der letzten noch immer weiter beharrt. So ist es gewöhnlich, sowohl was die anderen als auch was einen selbst betrifft, die meisten brauchen die Selbsttäuschung und etwas Optimismus, um mit ein wenig Zuversicht und Ruhe weiterzuleben, ich verstehe das nicht nur, ich habe das im Lauf meiner zahlreichen Tage auch sehr vermißt, die Gelassenheit und die Zuversicht: es ist unangenehm und hart, wissend und nicht hoffend zu leben. Aber was diese Gruppe sich vorgenommen oder zur Aufgabe gemacht hatte, war genau das, herauszufinden, wozu die Menschen unabhängig von ihren Umständen fähig wären, und sozusagen heute ihr Gesicht morgen zu kennen, schon jetzt zu wissen, wie diese Gesichter künftig sein würden; und herauszufinden, um deine Worte oder die deines Vaters zu zitieren, ob ein anständiges Leben dies in jedem Fall gewesen wäre oder es nur geliehen war, das heißt, weil sich keine Gelegenheit bot, es zu beschmutzen, keine ernsthafte Bedrohung durch einen unauslöschlichen Fleck.« (›Ich habe ihn noch nicht nach dem Fleck gefragt‹, erinnerte ich mich plötzlich, ›den ich gestern nacht oben auf der Treppe entfernt habe.‹ Aber ich dachte sofort, daß dies nicht der Augenblick dafür war, und ich sah ihn auch nicht mehr so deutlich vor mir.) »Das kann man wissen, denn die Menschen tragen ihre Möglichkeiten in ihrem Blut, und es ist nur eine Frage der Zeit, der Versuchungen und der Umstände, die sie schließlich zur Entfaltung bringen. Das kann man wissen. Mit Irrtümern natürlich, aber mit vielen Treffern. In jedem Fall arbeitet man auf einer Grundlage, auch wenn man sich dabei hauptsächlich auf eine Wette einläßt.« (›Darin hat er recht‹, dachte ich, ›ich glaube zu wissen, wer käme, um mich an die Wand zu stellen, wenn eines Tages ein weiterer Bürgerkrieg in Spanien ausbräche, ich drücke die Daumen und sage dreimal Holz und dreimal Eisen; oder mir ohne Vorwarnung eine Kugel in die Schläfe zu jagen, wie meinem Onkel Alfonso. Zu viele Freunde haben das Vertrauen zerstört, das ich in sie gesetzt hatte, wer sich gegenüber jemandem illoyal verhält, verzeiht ihm nie, daß er versagt hat; je größer der Verrat, um so größer ist in meinem Land der Schimpf des Verratenen und desto mehr fühlt sich der Verräter ins Unrecht gesetzt. Was die Feinde betrifft, so sind sie vielleicht das einzige, woran man dort nie arm gewesen ist, fast keinem von uns fehlen sie.‹) »Was sich als unerwartet schwierig erwies, war, Personen zu finden, die imstande waren, zu sehen, zu deuten, diesen Blick leidenschaftslos und gelassen genug zu gebrauchen, ohne wie ein Blinder oder auch nur wie ein Einäugiger herumzutappen.« (Wheeler griff immer öfter auf spanische Ausdrücke oder Wörter zurück, zweifellos machte es ihm Spaß, dieser Sprache Stippvisiten abzustatten, er hatte nicht mehr so oft Gelegenheit, sie zu sprechen.) »Schon damals war es eine seltene Gabe, man erkannte rasch, daß solche Personen sehr viel rarer waren, als man im ersten Augenblick hatte absehen können, als die Gruppe aus dem Nichts oder eilig und über Nacht geschaffen wurde, ihre ursprüngliche, dringende Aufgabe (später verlagerte oder erweiterte sie sich) war es, mitten im Krieg nicht nur die Spione und Spitzel der anderen Seite und auch die möglichen auf unserer Seite zu entdecken (ich meine Frauen und Männer, die uns dazu dienen könnten), sondern außerdem diejenigen, die leichte oder willige Beute für jene sein könnten, die Schwätzer, die der Versuchung nicht widerstanden und deren Bereitschaft zum Gespräch immer unvorsichtig war; und das sowohl auf unserem Territorium als auch in jedem anderen Hinterland und an neutralen Orten, überall gab es Spione und Spitzel und Narren und Maulhelden, sogar in Kingston, das versichere ich dir, ich meine Kingston, Jamaika, nicht die hier in der Nähe, am Hull und an der Themse. Und auch in Havanna natürlich.« (›Also waren es in der Karibik Kuba und Jamaika‹, dachte ich einen Moment, ohne vermeiden zu können, die Angabe mit vollem Bewußtsein zu registrieren.

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