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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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›Zu welchem Zweck mochte man Peter an diese Orte geschickt haben.‹) »Damals hatten zu viele Briten eine inquisitorische Gesinnung oder eine paranoide Mentalität oder beides zusammen entwickelt und waren in ihrem Argwohn bereit, jeden x-beliebigen zu denunzieren und Nazis selbst noch im Spiegel auszumachen, kurz bevor sie sich selbst erkannten, sie taugten also nichts. Dann gab es die große, unaufmerksame Masse, die wenig zu sehen pflegt und nichts beobachtet und noch weniger erkennt, die ständig dichte Ohrenklappen über den Ohren zu tragen scheint und eine Binde vor den Augen oder bestenfalls eine Maske mit zerfransten, engen Schlitzen. Dann gab es die Spinner und Leichtfertigen und Begeisterten, die, nur um sich als Teilhaber von etwas Nützlichem und Wichtigem zu fühlen (einige nicht in böser Absicht, die Armen), mit der größten Unbefangenheit den ersten Schwachsinn von sich gaben, der ihnen durch den Kopf ging, urteilen war für sie wie würfeln, ihre Erwägungen waren allesamt ohne Wert oder Grundlage. Und schließlich gab es die vielen, die, wie heute auch, eine wahre Aversion, mehr noch, panische Angst vor der Willkür und der möglichen Ungerechtigkeit ihrer Ansichten hatten: die sich lieber niemals äußerten, gelähmt von der Verantwortung und von ihrer unüberwindlichen Furcht vor dem Irrtum, die sich vor jedem Gesicht angstvoll fragten: Und wenn dieser Mann, den ich vertrauenswürdig und ehrlich finde, sich nun als feindlicher Agent entpuppt und durch meine Ungeschicklichkeit Landsleute von mir sterben oder ich selbst? Und wenn diese Frau, die mir so verdächtig und undurchsichtig vorkommt, nun völlig harmlos ist und ich sie mit meinem voreiligen Urteil ins Verderben stürze? Sie waren nicht einmal imstande, uns zu orientieren. Es hört sich dumm an, aber es stellte sich rasch heraus, daß man keine große Wahl hatte, mit einem Minimum an Vertrauen. Man mußte im Eiltempo das ganze Königreich durchkämmen, um ein paar zu rekrutieren, nicht mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig hier, in England, dazu einige wenige dort, wo wir uns jeweils befanden, und wenn wir kamen, integrierten wir uns. Die meisten stammten aus den Geheimdiensten selbst, aus den militärischen, einige aus dem alten OIC, das hast du nie gehört«, Wheeler erfaßte im Fluge meine unwissende Miene, »dem Operational Intelligence Centre der Marine, es waren wenige, aber sehr gute, vielleicht die besten; und natürlich aus unseren Universitäten: man griff immer auf die Geistesarbeiter zurück, die Seßhaften, wenn es um schwierige und heikle Angelegenheiten ging. Es ist unvorstellbar, was sie uns schulden seit dem Krieg, als sie sich ernsthaft daranmachten, uns einzusetzen, und was Blunt betrifft, so hätten sie seine Immunität und seinen Pakt bis zum Tag seines Todes und des Jüngsten Gerichts respektieren sollen« (›Wir sterben da und da‹, dachte ich; oder zitierte ich für mich), »wäre es auch nur aus Dankbarkeit und Ehrerbietung dem Gremium gegenüber. Natürlich mußten wir alle uns gewöhnen und uns verbessern, an uns feilen, unseren Blick schulen und unser Gehör verfeinern, nur die Übung schärft jeglichen Sinn und auch jegliche Gabe, das ist dasselbe. Wir hatten nie einen Namen, nie hießen wir irgendwie, weder während des Krieges noch danach. Nur das, was keinen hat, kann glaubwürdig in seiner Existenz geleugnet oder verheimlicht werden; deshalb wirst du nichts in den Büchern finden, nicht einmal in den ausführlichsten Abhandlungen, allenfalls Hinweise, Vermutungen, Ahnungen, einen einzelnen Fall, einzelne Fäden. Besser so: Wir machten schließlich sogar Berichte über die Vertrauenswürdigkeit der Vorgesetzten, über Guy Liddell, Sir David Petrie, sogar über Sir Stewart Menzies selbst, und ich glaube, daß jemand einen über Churchill anfertigte, der nicht ganz sauber war, ausgehend von den Nachrichtensendungen. In gewissem Sinne stellten wir uns über sie, ein langer Prozeß, in dessen Verlauf wir immer kühner wurden. Natürlich erfuhren sie nichts von unseren Exzessen, das war halb geheim. Deshalb erscheint mir Tupras Neigung, im privaten Kreis (ich hoffe, nur unter uns, aber das ist bereits ein Risiko) von ›Menschendeutern‹ oder ›Lebensübersetzern‹ oder ›Geschichtenantizipierern‹ und ähnlichem zu sprechen, als schwerer Irrtum; noch dazu mit einer gewissen Anmaßung, wenn man bedenkt, daß er an der Spitze steht und darin eingeschlossen ist. Rufnamen, Beinamen, Spitznamen, Pseudonyme

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