Deine Lippen, so kalt (German Edition)
mir an einem langen, drückend heißen Nachmittag die Haare schnitt, die fransigen Enden hochhielt und den Kopf schüttelte.
Und im Gegenzug bekam er alles von mir, was ich zu geben hatte. Fast alles. Die eine Sache, die ich vor ihm geheim gehalten hatte, war der Grund dafür, dass er jetzt hier bei mir war.
»Ich habe dir neues Papier mitgebracht.« Ich gebe ihm die Zeichenblöcke, die ich nach der Schule im Ein-Dollar-Laden gekauft habe. Ihre Qualität ist lausig, die Seiten sind hauchdünn, gedacht für kleine Kinder, die noch mit dicken Wachsmalstiften und Fingerfarben malen, aber ich weiß, er wird sich nicht beschweren. Ich könnte ihm gebrauchtes Bonbonpapier oder zerknitterte Fetzen der Sonntagszeitung mitbringen, und er würde mich trotzdem noch anstrahlen.
»Die habe ich gebraucht.« Er sieht die Blöcke jedoch nicht an, sondern legt sie einfach hinter sich auf das Bett und beugt sich vor, bis seine Stirn an meiner ruht, auf die Art, wie er es schon so oft gemacht hat, damals und heute. »Danke.«
Ich weiß, was er sich wünscht. Und es ist noch nicht lange her, da hätte er mich nicht darum bitten müssen. Ich wäre auf seinen Schoß geklettert, anstatt bloß neben ihm zu sitzen. Damals waren wir an den Mündern verschmolzen, wann immer es ging.
Das ist jetzt anders. Ich hätte nicht gedacht, dass es so sein würde. Meine Mom sagt, ich war schon immer das Kind, das die Sache mit der rotglühenden Herdplatte auf die harte Tour lernt. Das erst kapiert, wie hoch das Klettergerüst tatsächlich ist, wenn es den Halt verliert und auf den feuchten Rindenmulch darunter fällt.
Ich recke den Kopf, mein Mund streift seinen leicht, und er zieht mich an sich. »Ich habe dich vermisst«, murmelt er kurz darauf, die Lippen an meiner Wange. »Ich vermisse dich die ganze Zeit.«
Als er mich schließlich küsst, richtig küsst, sind seine Lippen kalt und trocken und seine Arme fest um mich geschlungen. Seine Finger spielen mit meinem Haar. Er schmeckt nach Rauch und Asche, nach der dunklen Schwere nasser Erde, aber ich erwidere den Kuss, meine Hand umfängt seine Wange.
»Ich will dich die ganze Zeit.« Diese Worte atmet er in meinen Mund, und ich entspanne mich in seiner Umarmung, als er mich enger an sich zieht. Er würde aufhören, wenn ich es ihm sage – er würde jetzt alles tun, was ich sage – aber ich sage nie Nein zum Küssen.
Ich habe ihm nur so wenig zu geben. Das hatte ich nicht bedacht. In jener Julinacht war ich überzeugt, ihm alles zu geben, was er sich wünschte, die Kerzenflamme heiß unter meinen Handflächen, während ich sang. Zur Abwechslung hielt ich mich einmal nicht für selbstsüchtig.
Ich liege oft falsch. Das wird euch jeder bestätigen.
Jedenfalls vermisse ich es, das Küssen, das angenehme Gewicht seines Arms auf meinen Schultern, während wir von der Schule nach Hause gehen, den Geruch seines frischen Schweißes, nachdem er mit Becker und Ryan in Beckers Keller Gitarre gespielt hat, ein warmer, nach Moschus duftender Junge. Ich vermisse ihn auch, wenn wir den ganzen Tag getrennt sind.
»Erinnerst du dich noch an das erste Mal?«, sagt er. Er legt mich hin und das Laken fühlt sich kühl an durch meinen Pulli, leicht klamm von der nächtlichen Oktoberluft. Seine Hände sind noch kälter, glatt und fest wie Marmor, und ich zittere, als er mit dem Finger über mein Schlüsselbein fährt. »Weißt du noch, wie du mich geküsst hast?«
Er fragt mich jetzt ständig solche Sachen. Der erste Film, in den wir zusammen gegangen sind (ein übler Horrorfilm, der mich dermaßen zum Lachen gebracht hat, dass ich fast an meinem Popcorn erstickt wäre), das erste Mal, als ich seine Eltern getroffen habe (ein Freitag im Dezember, in der klaustrophobischen, überhitzten Enge eines Drogeriemarktes, wo alle Schleifen und Schokoladenweihnachtsmänner kauften), der Song, der auf meinem iPod lief, als er mich das erste Mal anrief ( Visitation of the Ghost von den Brobecks).
Er mag es, wenn ich ihm die Geschichten erzähle, und wird ganz ruhig, während er mir zuhört – zu ruhig, völlig still. Seine Augen sind das Einzige, das sich noch bewegt. Sie beobachten mein Gesicht, meinen Mund, als versuche Danny sich vorzustellen, was war, damit er die Erinnerungen greifen und festhalten kann.
Ich mache mir Sorgen, dass er sich daran zu erinnern versucht, wie diese Momente sich angefühlt haben, wie er sich gefühlt hat. Eines Tages wird er verstehen, dass er nicht mehr dieser Junge ist.
»Es war drei
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