Deine Lippen, so kalt (German Edition)
würde, obwohl ich natürlich wusste, dass Tante Mari und Gram die gleichen Dinge tun konnten wie sie. Es schien eines dieser Erwachsenenprivilegien zu sein, und zwar eines, auf das Mom keinen besonderen Wert mehr legte. Aber als Robin und ich klein waren, war sie sehr freigiebig damit, genau wie Gram und Tante Mari.
Ich erinnere mich an ein Weihnachten, als Robin noch sehr klein war, nicht mal zwei, und Gram mit mir und Dad in den Garten ging. Es schneite, große weiße Flocken wirbelten vom Himmel herab und die Bäume bogen sich unter der Last der Eiszapfen der vorangegangenen Nacht. Gram stand in ihren dicken roten Mantel gehüllt da, während Dad und ich Schneeflocken mit der Zunge auffingen, und sie ließ mit ein paar geflüsterten Worten sämtliche Eiszapfen aufleuchten wie die Lichter eines Weihnachtsbaums.
Dad grinste, mit Zähnen so weiß wie die Schneedecke auf dem Rasen. »Sehr schön, Rowan«, sagte er und küsste sie auf die Wange. Es war zu kalt, um lange draußen zu bleiben, aber ich bewahrte diesen Moment in meinem Herzen, nachdem Dad fort war, und auch später noch, als Gram starb. Was ich nicht verstehen konnte, war, was an einer Sache verkehrt sein sollte, die Schönheit in ihrer reinsten Form war, und warum Mom nie darüber sprechen wollte.
Sogar an diesem Abend, als ich die Glühbirne platzen ließ und Mom die durchscheinenden Glassplitter aus Robins Haar klaubte, sagte sie kein Wort. Sie presste nur die Lippen aufeinander und befahl mir, den Besen zu holen.
Stattdessen stellte ich meinen Teller mit einem dumpfen Rums auf den Tisch und rannte nach oben in mein Zimmer.
Inzwischen ist es anders. Tante Mari hat mir das eine oder andere erzählt, obwohl Mom uns wahrscheinlich beide umbringen würde, wenn sie davon wüsste. Aber sobald ich alt genug war, um allein in die Stadt zu laufen, beschloss ich, dass nichts mich davon abhalten würde, zu Tante Mari zu gehen oder mich mit ihr im Bliss zu treffen, dem Café, in dem ich inzwischen jobbe. Das Einzige, worüber Tante Mari nicht mit mir reden wollte, war, warum sich die Dinge so sehr verändert hatten, nachdem Dad fortgegangen war. Aber sie teilte gern ihr Wissen über die in uns wohnenden Kräfte mit mir.
Übung macht ebenfalls eine Menge aus, auch wenn ich noch immer nicht von allein schweben kann. Aber einmal, als Danny und ich ineinander versunken auf seinem Bett rummachten, musste ich mich von ihm lösen, bevor ihm auffiel, dass ich über ihm schwebte. Zwischen uns waren überall zwei Zentimeter Luft – außer an unseren Mündern.
Mit Danny zusammen zu sein, konzentrierte irgendwie das, was in mir war. Wenn wir Zeit miteinander verbrachten, uns an den Händen hielten oder küssten oder einfach zusammen auf dem Sofa lagen, war das Summen viel stärker. Ein steter Puls, der mein Blut zum Kochen brachte. Aber ich zeigte ihm nie, was ich tun konnte. Ich spielte noch nicht mal darauf an. Sogar ohne Tante Maris Warnungen und das warnende Beispiel meiner Mutter wusste ich, dass die Dinge, die ich tun konnte, allein für mich bestimmt waren.
Sogar jetzt weiß Danny nicht, was ich bin oder was ich tun kann. Aber es gibt inzwischen viele Dinge, die Danny nicht versteht.
Das schlimmste für ihn ist, dass ich ohne ihn zur Schule gehe. Den Unterricht vermisst er nicht, er hasst bloß die Tatsache, dass ich nicht den ganzen Tag bei ihm sein kann, an ihn gekuschelt auf dem Dachboden. Letzte Woche habe ich aufgehört, auf dem Weg zur Schule bei ihm vorbeizuschauen, weil ich es nicht ertrug, wieder und wieder die gleiche Unterhaltung zu führen.
»Warum kann ich nicht mit?«, fragte er jedes Mal, drängte mich an die Wand, groß wie er war, und umfing mein Gesicht mit seinen kalten Händen. »Ich vermisse dich, wenn du nicht hier bist. Ich sitze einfach neben dir, Wren, ich schwöre. Ich bin dir nicht im Weg. Ich bin mucksmäuschenstill, versprochen.«
Es ist so schwer, Nein zu dieser Stimme zu sagen. Danny war schon immer sehr überzeugend, und wenn er seine Stimme auf die Art senkt, leise und sanft an meiner Wange flüstert, muss ich dagegen ankämpfen, nicht völlig dahinzuschmelzen.
Noch schlimmer ist, wie sehr er manchmal wie der alte Danny klingt, derjenige, der einen zu den unpassendsten Gelegenheiten zum Lachen bringen konnte. Derjenige, der Mrs DiFrancos morgendliche Lautsprecheransagen so treffend nachahmen oder aus dem Stand Filmdialoge deklamieren konnte. Mein Danny, derjenige, der vor drei Monaten gestorben ist, ist immer noch da drin,
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