Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Botschaften seiner Patienten erinnern mich daran, dass Dr. R auch eine ernste Seite hatte und sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, anderen Menschen zu helfen, im Leben wieder Fuß zu fassen. Warum ihm das so gut gelang? Das lag daran, dass er sein eigenes Leben im Griff hatte und dass er felsenfest davon überzeugt war, dass jedes Leben gut und lebenswert war und jeder auf eine Besserung hoffen konnte.
Ein Mensch wie Dr. R kann erkranken, sein Körper kann zerbrechen, und er kann uns verlassen. Doch der Glanz seines Lächelns und seine Herzlichkeit sind unvergänglich. Sie werden uns für immer bleiben.
B (PALO ALTO, CA)
44. Kapitel
Ich mache eine kleine Reise mit meinen Eltern; wir fahren zu SB und ihrer Familie in ihr Haus am See, in New Hampshire. Als wir dort ankommen, empfinde ich die Seen, die Bäume und die am Himmel entlanggleitenden Habichte als Balsam für meine Seele. Doch am allerschönsten finde ich, dass auf jedem Autokennzeichen das Motto des Staates New Hampshire steht: »Frei leben oder sterben«.
Und als ich mit Mum und Dad und SB um den See wandere, kommt es mir zum ersten Mal in den Sinn. Es ist das erste Mal, dass ich begreife, dass Ritzen schlecht ist, auch wenn es seinen Zweck erfüllt:
Allein mit einer Katze in einem verstaubten Schrank voller ungleicher Schuhe ist ein armseliger Platz, um dein kleines Licht leuchten zu lassen.
Mum lässt zu, dass ich mich bei ihr einhake. Sie flüstert mir zu: »Kennst du den Regisseur David Gordon Green?«
»Ja«, sage ich.
»Kennst du den Schauspieler Joseph Gordon-Levitt?«
»Klar.«
»Sie unterscheiden sich voneinander.«
Sie wartet darauf, dass ich widerspreche.
»Klar, Mum. Es sind zwei verschiedene Männer.«
Sie denkt über meine Antwort nach.
»Nein, das akzeptiere ich nicht.«
Dad, der mit seinen John-Cleese-Beinen vor uns hergeht, beginnt, Songs aus der
West Side Story
zu schmettern.
»Wenn du ein JET bist, ein JET bis aufs Mark / trägst du das Etikett voller Stolz / NOCH IM SARG .«
Dr. R würde es gefallen. Es würde ihm gefallen, mit uns hier am See zu sein, Seite an Seite mit Stephen Sondheim, der die Songtexte geschrieben hat.
Danach gehen Dad und ich zu
Jerusalem
über, inzwischen eine Art englischer Nationalhymne, die wir immer in der Schule singen mussten.
»Und wurde Jeruuusalem hier ERBAUT «, schmettert mein Vater aus voller Kehle, » INMITTEN dieser finsteren satanischen Mühlen?«
»Worum geht es eigentlich in diesem Lied?«, frage ich ihn.
»Oh.« Er zuckte die Schultern. »Das war William Blakes Mentalismus.« Nach allem, was meine Eltern mit mir durchmachen mussten, ist er ziemlich cool geworden, wenn es um psychische Störungen geht und die Macht, die sie haben können.
Ich weiß, dass ich immer wieder panische Momente haben und denken werde, dass ich verrückt werde (neulich sah ich mir eine volle Stunde lang Rick Moranis’ Clips auf YouTube an. Ich habe mir
Ride Like the Wind
von Christopher Cross heruntergeladen. Ich aß mal fünfzig Pekannüsse hintereinander. Mit »mal« meine ich vor einer Stunde. Beim Sex denke ich manchmal an die Szene von
Inglourious Basterds
, in der Shosanna einen Kinosaal in Brand steckt, der voller Nazis ist). Aber eigentlich werden die Abstände immer größer.
*
Dad und ich singen weiter. Mum bleibt ein Stück zurück, weil sie so klein ist und ihre Beine aus Schaumzuckermäusen bestehen. Ich bin immer noch bei der Jets-Choreografie, Dad ist beim Crescendo von
Jerusalem
angelangt.
Ich sage laut: »Ich bin verdammt glücklich.« Aber niemand kann mich hören, weil Dad die letzten Töne der Hymne grölt: » BA BA BAA BA BUUUUUH !«
17. Mai 2008
Ich bin Patient von Dr. R und werde es immer bleiben.
N (NEW YORK, NY)
Epilog
Ich bin in New York, sechs Monate nach unserer Trennung, als mir ein freundlicher Journalist per E-Mail ein Foto von GH schickt, Hand in Hand mit seiner neuen Gypsy-Frau, deren Kleid enthüllt, dass sie im vierten oder fünften Monat schwanger ist. Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Mich ritzen? Ich habe einen Kurzschluss.
Hier das Sofa, auf dem sie liegen. Hier seine Hand in ihrem Haar. Hier seine Worte auf ihrem Blatt. Hier steht, wie sehr er sie braucht. Hier steht, wie er sie zum ersten Mal küsste. Hier steht, wie wunderbar sie einander ergänzen.
Ich starre die Rasierklinge in meiner Toilettentasche an. »Sag mir, was ich tun soll!« Die Rasierklinge bleibt stumm. »Nun sag schon!« Ich kann meinen eigenen
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