Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Vorwort
Ich war auf der Suche nach einem Wochenendjob, und obwohl ich eher an einen Samstagsjob beim Frisör dachte, war mein Teenie-Hirn davon überzeugt, Ophelia bräuchte jemanden, der auf sie aufpasst. Deshalb radelte ich jeden Tag nach der Schule, bevor meine Mutter nach Hause kam, zur Tate Gallery, um Millais’ Muse zu besuchen.
Eigentlich wollte ich keinen Samstagsjob beim Frisör und Radfahren war auch nicht meine Stärke, doch mit dreizehn dachte ich, dass Dreizehnjährige gern Rad fahren und anderen Leuten für ein Trinkgeld die Haare waschen. Erst später begriff ich meine Fehleinschätzung: »Dies oder das soll ich wollen, also werde ich es versuchen.«
Wenn ich mich der Tate Gallery näherte, wusste ich bereits, was mich erwartete. Ich sah Ophelias tizianrote Haare schon vor mir, ihren weißen Körper, der den Fluss hinuntertrieb, umgeben von Blumen. Manchmal war sie tot, wenn ich ankam. Andere Male war sie erst am Sterben und konnte noch von jemandem gerettet werden, der am Ufer stand und den ich noch nie gesehen hatte. Jemand, den Millais skizziert und dann übermalt hatte und der unter den Pigmenten nur flach atmete, damit man ihn nicht sah – ein Mann, der Ophelia erstmal machen ließ, aber keinesfalls zulassen würde, dass sie ertrank.
Obwohl ich damals noch keinerlei sexuelle Erfahrung hatte, gab es Tage, an denen ich das Gefühl hatte, Ophelia sei mitten in einem Geschlechtsakt; die Arme nach oben gestreckt, den Mund geöffnet, läge sie unter einem unsichtbaren Geliebten. Sehr viel später – nachdem ich mich zum ersten Mal verliebt hatte – wusste ich, dass sie seinen postkoitalen Geruch nicht loslassen konnte, der intensiver war als der Duft der Blumen am Ufer, an denen sie vorbeitrieb. Die Blumen flehen sie an, in diesem Augenblick zu verharren. Sein Duft fesselt sie an die Vergangenheit.
An diesen Nachmittagen war die Tate Gallery von einer Mischung aus auffällig gekleideten älteren und schwarz gekleideten, hippen jungen Besuchern bevölkert – Erstere waren vor dem Regen geflüchtet, die zweite Gruppe hoffte auf Regen, um länger bleiben zu können. Immer war mindestens ein Flirt im Gange. Aber ich saß hauptsächlich in der Mitte des großen Saals auf der gepolsterten Lederbank vor Millais’ Gemälde, futterte verstohlen eine Tüte Chips und weinte. Salz und Essig waren mein Untergang. Bevor das Jahr um war, wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem ich dreiundzwanzig Tüten auf einmal verschlungen hatte. Noch heute schmeckt salziges Essen – zum Beispiel
Salt and Vinegar-Crisps
oder die Würzpaste
Marmite
– für mich nach Kummer.
Ich wusste, dass das Bild mich zum Weinen bringen würde, trotzdem zog es mich immer wieder hin. In der Schule kritzelte ich meine Hefte mit ihrem Namen voll: OPHELIA , mit schönen, runden Buchstaben. Ich wollte ständig bei ihr sein, und wenn ich samstags aufwachte, ging ich wieder hin und weinte erneut. Ich wusste nie, ob ich um sie weinte oder um mich. Rückblickend ist es leicht zu sagen: Ich glaube, sie hat mich angesteckt. Damals, als Dreizehnjährige, befürchtete ich, in ihr mein eigenes Schicksal zu sehen.
1. Kapitel
Ein Mann schleicht um mich herum, während ich schreibe. Alle Tische in dem Café in Los Angeles sind belegt.
»Gehen Sie bald?«
Vor mir stehen mein Notebook, eine Kaffeetasse und ein Diktiergerät.
»Nein«, sage ich.
»Ich gebe Ihnen tausend Dollar, wenn Sie gehen.«
»Okay«, sage ich und packe meine Sachen zusammen.
»Was?«
»Geht klar. Tausend Dollar. Ich gehe.«
Er schaut mich an, als sei ich übergeschnappt, und sieht zu, dass er wegkommt.
Ich hatte es ernst genommen. Er nicht. Nach all den Jahren, die ich nun schon »normal« bin, schaltet mein Radar immer noch ab, wenn es darum geht, was andere ernst meinen und was nicht.
Mum ruft mich auf dem Handy an, und ich gehe nach draußen, um das Gespräch anzunehmen.
»Wie spricht man Tóibín aus?«, will meine Mutter wissen. »Du weißt schon, Colm Tóibín, der irische Schriftsteller.« Wir telefonieren täglich miteinander, ich in Amerika, sie in England, und das Tag für Tag, seit ich mit einundzwanzig hierher gezogen bin. Inzwischen bin ich zweiunddreißig und sie einundsiebzig, obwohl sie eher wie eine Siebzehnjährige klingt.
»Es wird ›toe-bean‹ ausgesprochen, wie ›toe – Zehe‹ und dann ›bean – Bohne‹.«
»Herrje, das hab ich befürchtet«, sagt sie und lässt diese Info kurz auf sich wirken, dann: »Nein, unmöglich.«
»Aber
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