Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
genießen.
Genießen? – Nun, dieser Genuß war freilich ein höchst zweifelhafter! Der Schiit glaubt, daß ein jeder Moslem, dessen Leiche in Kerbela oder Nedschef Ali begraben wird, ohne alle weiteren Hindernisse sofort in das Paradies komme. Darum ist es der heißeste Wunsch eines Jeden, an einem dieser beiden Orte begraben zu sein. Da der Transport der Leichen per Karavane ein sehr kostspieliger ist, so kann er nur von den Reichen ermöglicht werden; der Arme aber, wenn er an so heiliger Stelle begraben sein will, nimmt Abschied von den Seinen und bettelt sich durch weite Länderstrecken bis zu der Grabstelle Ali’s oder Hosseïn’s, um dort seinen Tod zu erwarten.
Jahr für Jahr schlagen Hunderttausende von Pilgern den Weg nach jenen Stätten ein, aber diese Zuzüge sind am stärksten,wenn der zehnte Muharrem, der Todestag Hosseïns, naht. Dann steigen die Leichenkaravanen der schiitischen Perser, Afghanen, Beludschen, Indier etc. vom iranischen Tafellande herab; von allen Seiten werden Todte hergeschleppt, und sogar auf Schiffen führt man sie auf dem Euphrat herbei. Die Leichen liegen oft schon monatelang vor dem Aufbruche bereit; der Weg der Karavane ist ein weiter und höchst langsamer; die Hitze des Südens brütet mit fürchterlicher Glut auf die Strecke hernieder, welche durchzogen werden muß, und so gehört keine übermäßige Anstrengung der Phantasie dazu, sich den entsetzlichen Geruch zu denken, den eine solche Karavane verbreitet. Die Todten liegen in leichten Särgen, welche in der Hitze zerspringen, oder sie sind in Filzdecken gehüllt, die von den Produkten der Verwesung zerstört oder doch durchdrungen werden; und so ist es denn kein Wunder, daß das hohläugige Gespenst der Pest auf hagerem Klepper jenen Todeszügen auf dem Fuße folgt. Wer ihnen begegnet, weicht weit zur Seite aus, und nur der Schakal und der Beduine schleichen herbei: der Eine, angezogen von dem Geruche der Verwesung, und der Andere, herbeigelockt von den Schätzen, welche die Karavane mit sich führt, um sie am Ende der Wallfahrt den Händen der Grabeshüter zu übergeben. Diamantenbesetzte Gefäße, perlenbesäte Stoffe, kostbare Waffen und Geräthe, gewaltige Mengen vollwichtiger Goldstücke, unschätzbare Amulette etc. werden nach Kerbela und Nedschef Ali gebracht, wo sie in den unterirdischen Schatzkellern verschwinden. Diese Schätze werden, um die beduinischen Räuber zu täuschen, in sargähnlicher Verpackung verborgen, aber die Erfahrung hat die unternehmenden arabischen Stämme gelehrt, diese Vorsicht unnütz zu machen. Sie öffnen bei einem Überfalle sämtliche Särge und kommen so ganz sicher zu den Schätzen, welche sie suchen. Der Kampfplatz bietet danach ein wüstes Bild von gefällten Thieren, getödteten Menschen, zerstreuten Leichenresten und zerschmetterten Sargtrümmern, und der einsame Wanderer lenkt sein Pferd von ihnen ab, um dem Hauche der Pest und Ansteckung zu entgehen.
Es versteht sich ganz von selbst, daß die Todeskaravane während ihrer Reise keine eng bewohnte Stadt berühren darf. Früher durfte sie ihren Weg mitten durch Bagdad nehmen. Sie zog durch Schedt Omer, das östliche Thor, ein; kaum jedoch hatte sie im Westen die Stadt verlassen, so verbreitete sich der Pesthauch über die Khalifenstadt; die Seuche begann zu wüthen, und Tausende fielen der muhammedanischen Gleichgültigkeit zum Opfer, welche sich mit dem schlechten Troste behilft, daß ›Alles im Buche verzeichnet stehe‹. In neuerer Zeit ist das anders geworden, und besonders hat der so viel bewunderte und ebenso viel angefochtene Midhat Pascha unter den alten Vorurtheilen und Herkömmlichkeiten aufgeräumt. Die Leichenkaravane darf jetzt nur die nördliche Grenze des Stadtbezirks berühren, um dann auf der oberen Schiffbrücke über den Tigris zu gehen. Und dort war es, wo wir sie trafen.
Ein unerträglicher Pesthauch wehte uns entgegen, als wir uns der Stelle näherten. Der Kopf des langen Zuges war bereits angekommen und traf Anstalt, sich zu lagern. Eine hohe Fahne mit dem persischen Wappen (ein Löwe mit der hinter ihm aufsteigenden Sonne) war in die Erde gesteckt; sie sollte den Mittelpunkt des Lagers bilden. Die Fußgänger saßen auf der Erde; die Reiter hatten ihre Pferde und Kameele verlassen; aber die mit den Särgen beladenen Maulthiere blieben bepackt, zum Zeichen, daß der Aufenthalt nur ein vorübergehender sein werde. Nach ihnen zog sich der lange, unabsehbare Zug wie eine Schnecke herbei, welche in gerader
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