Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.
Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß wir, die wir um so viel tiefer lagerten als die Andern, weit mehr und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. An diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine Gedanken und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen und den Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare Allahglaube der Einen und der hochpoetische Glaube an den »großen, guten Geist« der Andern harmonierte mit meinem eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten hat sie sich aus dem Treiben der Wüste bis nach dem hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben. Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel »durch die Wüste.« Die Hauptperson aller dieser Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst erzählend, also als »Icherzähler« dargestellt werden. Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination. Doch, wenn dieses »Ich« auch nicht selbst existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden. Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses »Ich« ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging, um zu fragen: »Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?« »Edelmensch, wo bist Du? Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!« Diese Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder der Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende Antwort erfolgt »hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch, und Andere werden mir folgen!« So geht auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser imginäre Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre »Ich« hat nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles mit erlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung der großen Ausgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, also der niedrige Mensch, zum Edelmenschen entwickeln könne.
Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer
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