Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Gefahr aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses »Ich« also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses »Ich,« also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im Verlaufe ihrer Entwickelung bis heut gebracht hat. Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest überzeugt, trotzdem ich mit dem »Ich« mich nicht selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären »Ich«, also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald die Folge zeigen.
Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit will, daß zwischen beiden Friede sei, nicht länger Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orientes zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, dies zu glauben.
Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile desselben, für einzelne Stände, für einzelne Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen. Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempos zu besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen, aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts
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