Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
ihm herüber. Dicht daneben, vor dem als Magazin dienenden alten »Lagerhause« (dem ehemaligen kurfürstlichen Schloß), stampfte ein französischer Wachtposten, der sein Gewehr an das Schilderhaus gelehnt hatte, mit beiden Füßen in den Schnee und schlug sich mit den Armen überkreuz, wie die Matrosen tun, wenn sie die Finger wieder geschmeidig haben wollen. Dann kam das »Graue Kloster« und dann die Klosterkirche, deren beide Spitztürme eine hohe Schneehaube trugen; sie saß um so fester, je zerbröckelter die Steine waren.
Lewin, als er der Kirche ansichtig wurde, fühlte plötzlich ein Verlangen, dem Grabe Johanna Susemihls einen Besuch zu machen. Er ging von der rechten auf die linke Seite der Straße hinüber und trat durch einen zerfallenen Bogengang auf den Kirchhof. Alles war dicht verschneit. Er sah aber bald, daß ein Pfad in den Schnee getreten war, der an den Gräbern vorbei und, wo diese schon eingesunken waren, auch über sie hinweg um die Kirche herumführte. Diesen Weg schlug er ein, bis er an den linken Chorpfeiler kam. Da war es, das Grab. Von dem Efeu, der es überwuchs, war unter der weißen Grabdecke nicht viel zu sehen, aber an dem Pfeiler stieg er, von Schnee nur wenig überstreut, bis dicht unter das Dach empor. An ebendiesem Pfeiler lehnte auch das Holzkreuz, das, trotzdem es kaum drei Jahre stand, schon wieder halb umgefallen war und mit seiner Aufschrift – soviel sich erkennen ließ, nur ein Name ohne Spruch und Datum – klagend oder bittend gen Himmel sah. Lewin fühlte sich erschüttert von diesem Anblick und faltete unwillkürlich die Hände; dann verfolgte er im Schnee hin den schmalen Weg weiter, bis er wieder an die Stelle kam, von der er ausgegangen war, und schritt nun über den Damm hin auf seine Wohnung zu.
Frau Hulen war noch auf; sie ging nicht gern eher zu Bett, als bis sie ihren jungen Herrn unter Hut und Obdach wußte.
»Raten Sie, Frau Hulen, wo ich herkomme?«
»Von dem Geheimrat, wo das schöne Fräulein ist.«
»Da war ich auch. Vorher. Aber jetzt.«
»Ich kann es nicht raten.«
»Von Johanna Susemihl.«
»Und um Mitternacht!«
»Das ist die beste Zeit. Wissen Sie, Frau Hulen, mir tut die Johanna leid. Wer kann immer tugendhaft sein?«
»Gott, Gott, junger Herr, was is das nur mit Ihnen!«
Lewin antwortete nicht und pfiff leise vor sich hin. Er schien zerstreut und die Gegenwart der Alten kaum zu bemerken. Endlich begann er wieder: »Ich bin noch nicht müde, Frau Hulen; das macht, ich habe heute nachmittag meinen Schlaf vorweggenommen. Bringen Sie mir noch die grüne Schirmlampe, die kleine mit dem runden Fuß; ich will noch lesen.«
Frau Hulen tat, wie ihr geheißen, empfahl ihm noch, seinen Mantel über das Fußende zu legen und dreimal, ohne sich zu rühren, bis hundert zu zählen, und ließ ihn dann allein.
Er war in der Tat in einer Aufregung, die die guten, ihm von der Alten gegebenen Regeln nur allzusehr rechtfertigte. In fieberhafter Schnelle lösten sich die auf ihn einstürmenden Bilder untereinander ab, und wechselnde Gestalten umschwirrten und umdrängten ihn: Kathinka trat zur Mazurka an, aber ihr Tänzer war nicht Bninski, sondern Bummcke; dann sah er den Grafen mit Johanna Susemihl neben dem Chorpfeiler stehn, und dann wieder kam General York über ein weites Schneefeld geritten, das immer enger wurde, bis es der Klosterhof war, und drohte den beiden, die sich hinter dem Chorpfeiler zu verstecken suchten, mit dem Finger. Endlich wichen die Gestalten; das Fieber fiel von ihm ab, und ein Zustand süßer Mattigkeit überkam ihn, in dem dann und wann sogar ein Hoffnungsflämmchen aufzuckte. Zugleich regte sich der Wunsch in ihm, dieser Stimmung, in der sich Trauer und Hoffnung die Waage hielten, Ausdruck zu geben. Er schritt auf seinen altmodischen Sekretär zu, stellte vom Tisch her die kleine Schirmlampe auf die längst schräggedrückte, bei jeder Berührung knarrende Platte, nahm aus einem der Fächer eine Anzahl immer bereitliegender weißer Blätter und schrieb:
Tröste dich, die Stunden eilen,
Und was all dich drücken mag,
Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
Und es kommt ein andrer Tag.
In dem ew’gen Kommen, Schwinden,
Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
Und auch heitre Bilder finden
Ihren Weg zu dir zurück.
Harre, hoffe, nicht vergebens
Zählest du der Stunden Schlag;
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und – es kommt ein andrer Tag!
Es war ihm von Zeile zu Zeile freier ums Herz geworden. Er schob das Blatt
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