Hinter verzauberten Fenstern
1. Kapitel
Draußen wurde es dunkel, und es schneite immer noch. Julia saß auf der Fensterbank und sah hinaus. Der Himmel war dunkelgrau, und die Bäume und Häuser sahen aus wie Scherenschnitte aus schwarzer Pappe. Nur die Fenster leuchteten gelb vom Lampenlicht oder blau von irgendeinem Fernseher. Ab und zu stapfte eine graue Gestalt mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf unten auf der Straße vorbei. Aber ihre Mutter kam und kam nicht. Mindestens eine Stunde saß sie schon hier, drückte sich die Nase an der Scheibe platt und wartete. Da kam wieder jemand. Julia beugte sich vor. Nein, die hatte einen Hund dabei. Wieder nichts. Zwei Kinder hüpften vorbei und verschwanden hinter einem Gartentor.
Dann war alles wieder still und leer. Nur die Schneeflocken fielen leise vom Himmel herunter und bedeckten die schwarzen Äste und die schwarzen Dächer, die dunklen Hecken, die graue Straße und die geparkten Autos, die unter dem Schnee wie dicke, geduckte Tiere aussahen. Julia gähnte und presste die Nase wieder gegen die kalte Scheibe. Es ist doch immer dasselbe!, dachte sie. Wenn Mütter sagen, sie sind nur mal eben einkaufen, dann dauert’s eine Ewigkeit, bis sie wieder da sind. Und dann haben sie meistens schlechte Laune.
Ihre Zimmertür ging auf, und das Licht ging an. Ärgerlich kniff Julia die Augen zusammen und sah sich um.
»Mach das Licht aus, Olli«, knurrte sie ihren jüngeren Bruder an.
»Wieso sitzt du hier im Dunkeln?«
»Weil ich nur so draußen was erkennen kann. Also mach das Licht aus!«
»Versteh ich nicht«, sagte Olli. Aber er machte das Licht aus und schloss die Tür. Julia hörte, wie er im Dunkeln auf sie zutappte.
»Ist es dir nicht unheimlich im Dunkeln?«, fragte er und krabbelte neben sie auf die Fensterbank.
»O verdammt, du Zwerg«, stöhnte Julia, »warum gehst du nicht in dein eigenes Zimmer?«
»Da unten seh ich nichts. Nur die blöde Hecke. Hier unterm Dach ist es viel schöner.« Olli rutschte ein bisschen näher an sie heran. Er hatte Angst im Dunkeln. »Wetten, ich weiß, worauf du wartest?«, sagte er. »Na, sag schon.«
»Du wartest auf Mama.«
»Erraten«, sagte Julia. »Sie hat versprochen, mir einen Adventskalender mitzubringen.«
»Mir auch!«
»Dachte ich mir.«
»Was hast du dir für einen gewünscht?«
Eine voll gepackte Gestalt kam die Straße herunter. Die Mütze war die richtige. Die Jacke auch. Endlich.
Julia sprang von der Fensterbank und lief durch das dunkle Zimmer zur Tür. Olli kam hinterher. »Was für einen hast du dir gewünscht?« Ihr kleiner Bruder vergaß nie eine Frage.
»Einen mit Schokolade natürlich.«
»Ich auch.«
»Natürlich!«
Julia sprang die Treppe hinunter. Ihr Zimmer war das einzige unterm Dach. Zuerst hatte sie das gruselig gefunden, aber inzwischen gefiel es ihr. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Sie wusste, das konnte Olli ihr nicht nachmachen. Als sie atemlos die Haustür erreichte, hörte sie draußen ihre Mutter fluchen. Sie fand mal wieder den Schlüssel nicht.
Julia öffnete die Tür. Mama stand verfroren und zerzaust da, inmitten von voll gepackten Taschen und Tüten. Ihr einer Arm steckte bis zum Ellbogen in einer der Taschen und wühlte verzweifelt darin herum.
»Stell schon mal was in die Küche«, stieß sie hervor und zog den Arm aus der Tasche. Ohne Schlüssel.
»Mama, hast du meinen Kalender?«, fragte Julia.
»Alles nach der Reihe. Ich darf doch wohl erst mal zu Atem kommen, oder?«
Schlechte Laune. Sie hatte schlechte Laune. Wie erwartet.
Wortlos schleppte Julia eine Tüte in die Küche. Olli hatte es plötzlich gar nicht eilig, die Treppe runterzukommen.
»Wo ist euer Vater?«
»Der hat sich nach der Arbeit hingelegt.«
»Hm.« Ihre Mutter nickte und zog sich die schneenassen Sachen aus. Sie schüttelte die letzten Schneeflocken aus ihrem kurzen, dunklen Haar und putzte sich die rote Nase.
»So!«, sagte sie dann und rieb sich die Hände.
»Jetzt mach ich mir erst mal einen Kaffee. Wollt ihr Kakao?« Julia suchte mit den Augen die Taschen ab.
»Mama, bitte! Wo ist der Kalender?«
Ihre Mutter ging zur Kaffeemaschine und goss Wasser hinein. »Eigentlich sollt ihr sie ja erst morgen bekommen«, sagte sie. Julia warf Olli einen verzweifelten Blick zu.
Der schaute grinsend zurück. Er verstand es meisterhaft, ihre Mutter um seinen klitzekleinen Finger zu wickeln. Und das wusste er. »Ach, Mama, bitte!«, sagte er. »Wir haben uns schon so darauf gefreut!«
Große, bittende Augen. Schief gelegter
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