Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
»Ich möchte fast das Gegenteil glauben. Es war ein Haus schwerer Prüfungen, wachsender Demütigung; aber wo so viel Liebe, so viel schöner Eifer waltete, von einem jungen Leben den drohenden Makel der Geburt, jeden Verdacht des Ungesetzlichen fernzuhalten, das kann kein Haus der Unsitte gewesen sein. Ich habe die Geschichte von dem ›starken Mann‹ nicht ohne Rührung gehört. Unglück, nicht Unsegen; Heimsuchung, nicht Fluch.«
»Sie überraschen mich«, nahm der Justizrat wieder das Wort. »Ich bin Ihnen dogmatisch nicht gewachsen; aber würden Sie, auch ohne Neigung zu Marie, zwischen Unglück und Unsegen immer so scharf unterscheiden wie in diesem Augenblick? Würden Sie nicht geneigt sein, die Heimsuchung als eine Folge der Verschuldung, als Strafe, als Verwerfung anzusehen? Irr’ ich darin, wenn ich annehme, daß gerade Männer Ihrer Richtung Gewicht legen auf Patriarchalität?«
»Nein, darin irren Sie nicht«, erwiderte Othegraven. »Gewiß ist ein Unterschied zwischen dem Hause des Lot und dem Hause von Sodom, und diesen Unterschied, ohne ein klarsprechendes Zeichen, mißachten zu wollen, wäre Auflehnung gegen Sitte und Gebot. Aber was entscheidet, ist doch immer die Gnade Gottes. Und diese Gnade Gottes, sie geht ihre eigenen Wege. Es bindet sie keine Regel, sie ist sich selber Gesetz. Sie baut wie die Schwalben an allerlei Häusern, an guten und schlechten, und wenn sie an den schlechten Häusern baut, so sind es keine schlechten Häuser mehr. Ein neues Leben hat Einzug gehalten. Die Patriarchalität ist viel, aber die Erwähltheit ist alles.«
»Und diese finden Sie in Marie?«
»Ich brauche diese Frage gerade Ihnen, teuerster Freund, nicht erst zu beantworten, denn wir empfinden gleich, jeder von uns auf seine Weise. Und wenn die Vergangenheit dieses Kindes dunkler und verworrener wäre, als sie ist, ich würde diese Verworrenheit nicht achten. Es gibt eben Naturen, über die das Unlautere keine Gewalt hat; das macht die reine Flamme, die innen brennt. Ich habe Marie nie gesehen, ohne mit einer Art von freudiger Gewißheit, die Empfindung zu haben: sie wird beglücken und wird glücklich sein.«
Turgany drückte dem Freunde die Hand. »Othegraven, ich habe immer große Stücke von Ihnen gehalten, von heute ab lasse ich Sie nicht wieder los.«
So ging die Unterhaltung; das Schlittengeläute klang über die Schneefelder hin; in den Dörfern war alles still; kein Licht als die glitzernden Sterne.
Dieselben Sterne schienen auch in ein Giebelfenster von Schulze Kniehases Haus. Marie schlief; die Bilder des letzten Abends, wie sie Leben und Dichtung geboten hatten, zogen in einem phantastischen Zuge an ihr vorüber: vorauf der Dolgeliner Pastor mit dem Schmidt-von-Werneuchenschen Hägereiter, der jetzt sein Waldhorn, statt es zu blasen, über der Schulter trug; dann der »Wagen Odins«, riesig vergrößert, auf dessen Achse Prediger Seidentopf stand. Den Schluß aber machte »der Knabe mit dem Stabe«, und das Weihnachtslied, das Tante Schorlemmer und Renate gesungen hatten, klang im Traume nach.
Siebzehntes Kapitel
Tubal an Lewin
Der dritte Feiertag fiel auf einen Sonntag. Es war ein klarer Morgen. Die Scheiben, nach der Parkseite hinaus, standen im goldenen Schein der eben über den Kirchhügel steigenden Sonne, überall aber, selbst wo sonst Schatten lag, leuchtete der am Abend vorher frisch gefallene Schnee.
Es mochte neun Uhr sein. In dem großen Wohnzimmer, in das wir unsere Leser schon in einem früheren Kapitel führten, saßen Lewin und Renate, aber nicht um den Kamin herum, wie am Abend des ersten Weihnachtstages, sondern in der Nähe des eine tiefe Nische bildenden Eckfensters. Sie hatten hier nicht nur das beste Licht, sondern vermochten auch mit Hilfe der mehrgenannten breiten Auffahrt auf die Dorfstraße zu blicken, deren Treiben in der Einsamkeit des ländlichen Lebens immer eine Zerstreuung und oft den einzigen Stoff der Unterhaltung bietet.
Das Frühstück schien beendet; die Tassen waren zurückgeschoben, und Lewin legte eben ein elegantgebundenes Buch aus der Hand. »Ich fürchte, Renate, wir haben ihm doch unrecht getan. Aber diese unglückliche Begeisterung des Dolgeliner Pastors! Da reißt einem die Geduld. Und doch ist viel Sinniges darin. Nun hinke ich mit meiner Ehrenerklärung nach; amende honorable retardée oder ›moutarde après le diner‹, wie Tante Amelie mit Vorliebe sagen würde.«
Renate nickte.
»Apropos die Tante«, fuhr Lewin fort, »ich habe
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