Delphi sehen und sterben
taten ihn als einen Mann ab, der durch die Trauer verrückt und zu einer Peinlichkeit geworden war. Ich empfand ein gewisses Mitgefühl. Ich wusste, wie ich reagieren würde, sollte eine meiner Töchter je vermisst werden.
Wir begaben uns früh zu seinem Haus. Es war ein warmer, klarer römischer Morgen, der zu einem sehr heißen Mittag zu werden versprach. Als wir auf das Forum bogen, war zu erkennen, dass der leichte Dunstschleier über dem Kapitol sich bald in blendende Helle verwandeln würde, zu hell, um zum neuen Tempel des Jupiter mit dem goldenen Dach und dem schimmernden weißen Marmor aufzuschauen. Über dem anderen Ende des Forums hing eine Staubwolke von der riesigen Baustelle des Flavischen Amphitheaters. Inzwischen nicht mehr nur das größte Loch der Welt, hoben sich die Wände langsam in einer phantastischen Travertinellipse, und um diese Uhrzeit waren die Bauarbeiten am hektischsten. Überall sonst waren weniger Menschen als üblich unterwegs. Alle, die es sich leisten konnten, hatten die Stadt verlassen. Gelangweilte Senatoren und aufgeschwemmte Ex-Sklaven mit Multimillionen-Unternehmen hatten sich für zwei Monate an die Küste, in die Berge oder an die Seen zurückgezogen und würden erst wiederkehren, wenn die Gerichte und die Schulen Ende September geöffnet wurden. Selbst dann würden sie vernünftige Ausreden finden, den Landaufenthalt zu verlängern.
Wir hielten uns im Schatten am nördlichen Ende und gingen auf den Via-Lata-Bezirk zu.
Ich hatte ein Einführungsschreiben geschickt und eine kurze Nachricht erhalten, dass ich vorbeikommen könne. Ich vermutete, Caesius würde mich als Unhold oder Gauner betrachten. Damit konnte ich umgehen. Ich hatte genug Erfahrung.
Caesius Secundus war seit langem verwitwet, und die verschwundene Tochter war sein einziges Kind. Er wohnte in einem verblichenen Stadthaus an der Via Lata, kurz bevor sie in die Via Flaminia abbiegt. Ein Scherenschleifer hatte Teile des Erdgeschosses als Werkstatt und Verkaufsraum gemietet. Der Teil des Hauses, in dem Caesius wohnte, wirkte und klang halb leer. Eingelassen wurden wir nicht von einem Pförtner, sondern von einem Sklaven in einer Küchenschürze, der uns den Empfangsraum zeigte und dann zu seinen Kochtöpfen zurückkehrte.
Trotz meiner Befürchtung, abgewiesen zu werden, empfing uns Caesius sofort. Er war groß gewachsen und von einst wohl schwerem Körperbau. Inzwischen hing seine weiße Tunika schlapp von einem sehnigen Hals und knochigen Schultern. Der Mann hatte an Gewicht verloren, ohne bisher bemerkt zu haben, dass er neue Kleidung brauchte. Für ihn war die Zeit an jenem Tag stehengeblieben, an dem er hörte, dass seine Tochter verschwunden war. Vielleicht würde er nun nach seiner Rückkehr nach Rom an Essenszeiten und andere normale Abläufe erinnert werden. Wahrscheinlicher war jedoch, dass er jede Art von Zuwendung abwehren würde.
»Ich weiß, warum Sie gekommen sind.« Er war sehr direkt, wandte sich trotz seiner ausgemergelten Erscheinung zu schnell der Angelegenheit zu.
»Ich bin Didius Falco. Darf ich Ihnen meine Frau Helena Justina vorstellen …« Stattlich und von erfreulichem Äußeren, verlieh sie uns Seriosität. Mit der eleganten Kleidung einer wohlerzogenen Matrone lenkte Helena stets die Aufmerksamkeit von meinen rauhen Manieren ab. Mir gelang es, die Tatsache zu verbergen, dass mich ihre Anwesenheit körperlich ablenkte.
»Sie wollen mit mir über meine Tochter sprechen. Erlauben Sie mir zuerst, sie Ihnen zu zeigen.«
Wir waren überrascht, aber Caesius führte uns nur zu einem inneren Säulengang neben einem kleinen Hof. Auf einem korinthischen Sockel stand die Halbstatue einer jungen Frau, gefertigt aus weißem Marmor von guter Qualität. Eine Porträtbüste, der Kopf leicht zur Seite geneigt, den Blick sittsam zu Boden gerichtet. Das Gesicht wies genug Charakter auf, um vom lebenden Modell abgenommen zu sein, wenngleich die Neuheit der Arbeit darauf hinwies, dass der Auftrag erst nach dem Tode erteilt worden war.
»Das ist alles, was ich jetzt noch habe.«
»Ihr Name war Marcella Caesia?«, fragte Helen, den Blick nachdenklich auf die Statue gerichtet.
»Ja. Sie wäre vor kurzem einundzwanzig geworden.« Der Vater starrte die Büste ein wenig zu lange an. In der Nähe stand ein Hocker. Vermutlich brütete er hier stundenlang vor sich hin. Für den Rest seines Lebens würde sich die Zeit darin bemessen, wie alt sein verlorenes Kind sein würde, wäre es am Leben
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