Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«
Der Major flüsterte:
»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht es ihr?«
Ich sage darauf:
»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«
Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt, während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten, ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben, solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen – wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte und nach ihrem Fenster unter mir blickte –, daß sie sich ein wenig hinauslehnte und die Straße hinabschaute. Es wurde gerade dunkel, als ich sie auf der Straße sah.
Von einer solchen Angst erfüllt, ich könnte sie aus den Augen verlieren, daß sie mir noch jetzt, wo ich es erzähle, fast den Atem benimmt, rannte ich, schneller als ich je in meinem ganzen Leben gelaufen bin, die Treppe hinunter. Ich schlug nur einmal im Vorübergehen mit der Hand an die Tür des Majors und schlüpfte auf die Straße. Ich sah sie nicht mehr. Ich lief mit derselben Schnelligkeit die Straße hinunter, und als ich an der Ecke der Howard Street anlangte, sah ich, daß sie in diese eingebogen war und vor mir nach Westen zu ging. Oh, mit welch dankerfülltem Herzen sah ich sie dahinschreiten!
London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die Umgebung unseres Hauses hinausgekommen. Sie hatte mit ein paar kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Bekanntschaft gemacht, stand bisweilen bei ihnen auf der Straße und blickte nach dem Wasser. Sie ging jetzt aufs Geratewohl, wie ich wußte, aber dabei schlug sie doch immer die richtigen Seitenstraßen ein, bis sie an den Strand kam. An jeder Ecke sah ich, wie ihr Kopf beständig einer bestimmten Richtung zugekehrt war, und das war stets die Richtung nach dem Fluß.
Vielleicht war es nur die Dunkelheit und Stille der Adelphi-Terrasse, die sie veranlaßte, in diese einzubiegen, aber sie tat es so entschlossen, als ob diese von Anfang an ihr Ziel gewesen wäre. Vielleicht war es auch wirklich so. Sie ging geradewegs auf die Terrasse zu und an ihr entlang und blickte dabei über das Geländer, und noch oft in späterer Zeit fuhr ich in meinem Bett aus einem Angsttraum empor, indem ich sie wie in jenem Augenblick vor mir sah. Die Verlassenheit des Kais unterhalb und das rasche Strömen der hohen Flut an dieser Stelle schienen sie zu locken. Sie warf einen Blick um sich, wie um den Weg nach unten herauszufinden, und schlug den richtigen oder den falschen Weg ein – ich weiß nicht welchen, denn ich bin vorher oder nachher nie dort gewesen –, während ich ihr folgte.
Es war bemerkenswert, daß sie während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal zurückblickte. Aber in ihrem Gang war jetzt eine große Veränderung wahrzunehmen; denn während sie bisher einen gleichmäßigen raschen Schritt eingehalten hatte, wobei ihre Arme auf der Brust gekreuzt waren, lief sie unter den unheimlich finsteren Wölbungen in wilder Eile mit weitgeöffneten Armen dahin, als wären es Flügel und sie flöge zum Tod.
Wir befanden uns jetzt auf dem Kai, und sie blieb stehen. Auch ich machte halt. Ich sah, wie ihre Hände nach ihren Hutbändern griffen – im nächsten Augenblick war ich zwischen ihr und dem Kairand und faßte sie mit beiden Armen um den Leib. Sie hätte mich mit in die Tiefe reißen können, aber unter keinen Umständen wäre es ihr gelungen, sich von mir loszumachen – das sichere Gefühl hatte ich.
Bis zu diesem Augenblick war es in meinem Kopf ganz wirr gewesen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung
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