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Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)

Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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so traf ich stets auf diesen dankbaren Blick. Oft bot sie mir auch ihre zitternden Lippen zum Kuß, viel mehr wie ein liebevolles Kind, dessen Herz vom Kummer halb gebrochen ist, als wie ich es mir von einem erwachsenen Menschen denken könnte.
    Einmal war das Zittern dieser armen Lippen so stark, und ihre Tränen strömten so reichlich, daß ich glaubte, sie wolle mir all ihr Leid erzählen; deshalb nahm ich ihre beiden Hände zwischen die meinen und sagte:
    »Nein, mein liebes Kind, nicht jetzt. Es ist am besten, wenn Sie jetzt nicht davon sprechen. Warten Sie auf bessere Zeiten, wenn Sie darüber hinweggekommen sind und sich wieder kräftig fühlen; dann sollen Sie mir erzählen, soviel Sie wollen. Soll das zwischen uns ausgemacht sein?«
    Während wir uns noch an den Händen hielten, nickte sie viele Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und drückte sie an Lippen und Herz.
    »Nur noch ein Wort jetzt, mein liebes Kind«, sagte ich. »Gibt es jemand?«
    Sie blickte mich fragend an.
    »Zu dem ich gehen kann?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Niemand, den ich zu Ihnen bringen kann?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    » Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und dahin.«
    Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand, hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in einer feierlichen Weise – nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses, schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.
    Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah, daß sie mich fragte:
    »Ist dies der Tod?«
    Worauf ich erwiderte:
    »Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«
    Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den Windeln herbei und sagte:
    »Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet. Dies ist mir anvertraut.«
    Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen, und ich küßte sie innig.
    »Ja, mein Kind«, sagte ich. »So Gott will! Mir und dem Major.«
    Ich weiß nicht, wie ich es mit den rechten Worten schildern soll, aber ich sah ihre Seele sich erhellen und froh werden, und mit einem letzten Blick wurde sie frei und flog davon.
    Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach seinem Paten, dem Major, Jemmy nannten; sein Familienname aber war Lirriper nach mir selbst. Und niemals ist ein Kind solch ein Sonnenschein in einer Pension und solch ein lieber Spielkamerad für seine Großmutter gewesen, wie es Jemmy für dieses Haus und für mich war. Er war immer gut und hörte auf das, was man ihm sagte (meistens), er wirkte besänftigend aufs Gemüt und machte alle Dinge angenehmer, mit Ausnahme des Falles, als er alt genug war, um seine Mütze in Miß Wozenhams Luftschacht hinunterfallen zu lassen, und sie sie ihm nicht hinaufreichen wollten. Da geriet ich in Wut, nahm meinen besten Hut, Handschuhe und Sonnenschirm, und mit dem Kind an der Hand sage ich:
    »Miß Wozenham, ich habe nicht erwartet, jemals Ihr Haus zu betreten, aber wenn die Mütze meines Enkels nicht augenblicklich zurückgegeben wird, so sollen die Gesetze dieses Landes, die die Eigentumsrechte der Untertanen regeln, schließlich zwischen mir und Ihnen entscheiden, koste es, was es wolle.«
    Mit einem höhnischen Zug im Gesicht, der, wie es mir schien, auf doppelte Schlüssel deutete – aber das konnte auch eine Täuschung sein, und wenn noch irgendein Zweifel besteht, so mag Miß Wozenham den ganzen Vorteil davon haben, wie es recht ist –, klingelt sie und fragt:
    »Jane, liegt etwa eine alte Mütze von einem Gassenjungen in unserem Schacht unten?«
    Darauf sage ich:
    »Miß Wozenham, bevor Ihr Mädchen diese Frage beantwortet, muß ich Ihnen ins Angesicht sagen, daß mein Enkel kein Gassenjunge ist und keine alten Mützen zu tragen pflegt. Wirklich, Miß Wozenham«, fügte ich hinzu, »ich bin keineswegs sicher, ob die Mütze meines Enkels nicht neuer als Ihre Haube ist.«
    Das war einfach wild von mir, da ihre Spitze das gewöhnlichste Maschinenzeug und noch dazu

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